Der marktgerechte Mensch
Was geschieht mit Menschen, die zunehmend dem Diktat des Wettbewerbs unterworfen werden? Die Frage ist dringend und auch filmreif.
Interview von Katrin McClean Rubikon 25.Juli 2017
Wenn Effizienz als einziger anzustrebender Wert auf dem freien Markt übrig bleibt, verändert sich die Arbeitswelt in eine pausenlose Konkurrenzmaschinerie. Die Produktionsfirma „Kernfilm“ untersucht in ihrem neuen Projekt die Folgen und Gefahren dieser Entwicklung. Katrin McClean hat die Filmemacher Leslie Franke und Herdolor Lorenz in ihrem Hamburger Studio besucht.
Zunächst einmal: Was ist „Kernfilm“, wie ist euer Unternehmen entstanden?
Herdolor Lorenz: Das ist eine ziemlich lange Geschichte, die sich schrittweise vollzogen hat. Angefangen haben wir beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wo wir ab 1986 den Prozess der Perestroika und das Auseinanderbrechen der UdSSR für das deutsche Fernsehen dokumentiert haben. Als die Entwicklungen dort immer hässlicher wurden, kehrten wir nach Deutschland zurück und machten sehr schnell die Erfahrung:
Kritik in anderen Ländern ist im deutschen Fernsehen immer erwünscht, aber wehe du bist im eigenen Land kritisch. Da kommt etwas, das muss man schon als Zensur bezeichnen.
Zensur in Deutschland? Ich kenne eine Menge Menschen, die das vehement bestreiten würden. Was ist euch denn passiert?
Leslie Franke: Wir haben 1995 einen Film über die bosnischen Flüchtlinge gemacht. Damals wollte Deutschland die noch so schnell wie möglich loswerden, und entsprechend negativ sollte die Darstellung sein. Wir haben diese Leute aber als Menschen wie du und ich gezeigt und sie reden lassen. Das waren oft gut ausgebildete, selbstbewusste Fachkräfte, und die haben zum Beispiel davon erzählt, wie es ist, wenn sie hier nur als Putzhilfen arbeiten können und dann teilweise enorm arrogant behandelt werden. Wir haben auch serbische Flüchtlinge gezeigt, die man ja damals nie in ein positives Licht stellen durfte.
Herdolor Lorenz: Die Redaktion des NDR hat das abgenommen und gesendet. Aber noch am selben Abend rief ein Vertreter des Intendanten bei uns an und sagte: Sie machen nie wieder was für’s Fernsehen. Später haben wir dann noch einige Filme für ARTE gemacht. Aber es wurde immer schwieriger. Unseren Film über die Privatisierung der Wasserversorgung in Frankreich und Deutschland konnten wir nur noch unter enormen Kämpfen durchbekommen. Kollegen von uns, die noch dort sind, sagen, dass es auch bei ARTE immer schlimmer wird. Deshalb haben wir mit Crowdfunding angefangen.
Auf eurer Internetseite heißt es, dass ihr „Filme von unten“ produziert. Was bedeutet das genau?
Leslie Franke: Jeder, der unser aktuelles Filmprojekt fördern möchte, unterstützt das Projekt mit 20 Euro über die jeweilige Filmwebseite. Manche auch mit weniger bzw. mehr. Wenn der Film fertig ist, gibt es einen Verein, der den FilmförderInnen eine DVD mit dem Recht schickt, den Film überall nichtkommerziell vorzuführen. Monatlich verschicken wir an unseren Unterstützerkreis einen Newsletter mit aktuellen Infos zum Thema oder zum Stand des Crowdfundings. Wer möchte, kann uns gerne Ideen für das neue Projekt mitteilen, wobei die Entscheidung, was am Ende gemacht wird, natürlich bei uns bleibt. Das hat viele Vorteile. Wir erfahren sehr viel über die Gedanken und Sorgen unserer Zuschauer. Manchmal kommen auch gute Kontakte zu Interviewpartnern zustande. Mit der Premiere sorgt dann ein funktionierendes Netzwerk dafür, dass der Film in Hunderten von Veranstaltungen in kommunalen Kinos, an Universitäten und Schulen, in Gemeindesälen und Kneipen gezeigt und das Thema diskutiert wird.
Herdolor Lorenz: Wir bekommen auch wesentlich mehr feedbacks. Während sich die Filme im Fernsehen eher „versendet“ haben und oft nur passiv rezipiert wurden, schreiben uns die Zuschauer jetzt viel mehr Emails, die sich intensiv mit den Filmen auseinandersetzen. Wir werden auch vielfach zu den Filmdiskussionen eingeladen.
Euer letzter Film „Wer rettet wen?“ hat sich mit Bankenrettungen und Griechenlandkrise beschäftigt. Ihr wurdet von der Tagesschau als Kulturtipp erwähnt.
Herdolor Lorenz: Das war eine Kollegin von uns, die das einfach gemacht hat. Es gibt ja immer noch einzelne mutige Menschen in den Sendern. Damit hat die Redakteurin uns enorm geholfen. Viele Zeitungen und Rundfunksender haben den Tipp aufgegriffen.
Inzwischen arbeitet ihr an einem neuen Projekt, in dem nicht Banken oder Hedgefonds im Vordergrund stehen, sondern Menschen in Arbeitsprozessen. Wie kam es zu dem neuen Thema?
Leslie Franke: Das ist in gewissem Sinne eine logische Folge aus der Arbeit an „Wer rettet wen?“ gewesen. Im Kampf um die immer höhere Rendite wird ja überall mehr Wettbewerbsfähigkeit gefordert. Und das hat gravierende Folgen für die Gesellschaft und für jeden einzelnen Menschen. Die wollen wir untersuchen.
In eurer Projektbeschreibung sprecht ihr von einer rasanten Veränderung des Arbeitsmarktes. Was meint ihr konkret?
Herdolor Lorenz: Das Zentrale ist die Arbeitsgesetzgebung, die sich mit der Agenda 2010 tiefgreifend verändert hat. Während früher der unbefristete Arbeitsvertrag die Norm war, gibt es heute zahlreiche Modelle für Arbeitgeber, sich an der sozialen Verpflichtung für den Arbeitnehmer vorbei zu mogeln.
Mini-Jobs, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit und Arbeiten auf Honorarbasis zum Beispiel. Es werden immer mehr solcher Modelle entwickelt, und sie werden immer abstruser. Etwa, wenn ein Verkäufer bei H&M sich verpflichtet, 6 Tage die Woche rund um die Uhr für H&M in Bereitschaft zu sein, aber oftmals nur die garantierten 10 – 15 Stunden wirklich gegen Honorar beschäftigt wird.
Leslie Franke: Die Firmen wälzen also immer mehr Risiken auf die Beschäftigten ab und drücken sich um die Zahlung von Sozialversicherungen. Das verkleiden sie in der Botschaft, dass jeder sein eigener Unternehmer ist. Für junge Leute mag das toll klingen, aber die haben eben nicht im Blick, dass sie weder kranken- noch sozialversichert sind und später in der Altersarmut landen.
Vielleicht gerade hier noch einmal für die jüngeren Leser: Welche gesetzlichen Regelungen gab es früher, die über Jahrzehnte von Arbeitnehmern erstritten wurden, und die nunmehr abgeschafft werden.
Herdolor Lorenz: Werksverträge waren verboten, Arbeitnehmer mussten immer direkt beschäftigt werden und nicht über eine Verleihfirma. Leiharbeit selbst war nur in Ausnahmefällen erlaubt. Arbeitnehmer mussten nach einem befristeten Vertrag in die Festanstellung übernommen werden und genossen ab da einen hohen Kündigungsschutz.
Aber vor allem ist ja auch die Zahlung des Arbeitslosengeldes kaputtgespart worden. Zwei Jahre Arbeitslosengeld, und danach noch mehrere Jahre Arbeitslosenhilfe, da wurde auch dein Vermögen noch nicht angegriffen. Heute hast du das alles nicht mehr und wirst über die Hartz-IV-Gesetze praktisch sofort in den nächsten Job gezwungen.
Es wurde behauptet, all diese sozialen Sicherheiten und Leistungen mussten abgeschafft werden, weil unsere Gesellschaft sich das nicht leisten könnte.
Herdolor Lorenz: Wir glauben, dass das ein Irrtum ist.
Freier Wettbewerb, der nicht geregelt ist, nutzt immer nur den Starken, denen, die Besitzer der Unternehmen sind und davon profitieren, dass es immer mehr Arbeitnehmer gibt, die für noch weniger Lohn arbeiten gehen.
Das Gesetz lautet: Je weniger Ausgaben, umso mehr Gewinn. Die Leidtragenden sind die Beschäftigten. Das betrifft nicht nur Lohnkosten, sondern auch Arbeitssicherheit, Umweltschutz und so weiter. Der deregulierte Wettbewerb kann nur immer weiter nach unten führen, es gibt ja keine Grenze mehr.
Leslie Franke: Es ist auch volkswirtschaftlich idiotisch. Wir alle müssen als Steuerzahler dafür zahlen, dass die Leute krank werden oder Burn out bekommen. Wer den ganzen Tag arbeitet und trotzdem nicht genug Geld für Wohnung und Familie hat, erlebt Stress, der auf die Dauer krank macht, und das geht auf die Kosten aller.
Um das zu verhindern, benötigt man eigentlich politische Entscheidungen, die den Agenda-Kurs von Schröder rückgängig machen.
Herdolor Lorenz: Danach sieht es aber nicht aus. In unseren Medien wird Macron gerade als gute Alternative gegenüber Le Pen gefeiert. Aber eine der ersten Dinge, die er noch vor den Sommerferien machen will, ist es, die Tarifverträge abzuschaffen und den Unternehmern zu versprechen, dass sie selbst entscheiden können, was arbeitsrechtlich geschieht.
Die Gewerkschaften werden von ihm quasi entmachtet und bekommen nur noch ein sehr eingeschränktes Mitspracherecht. Es gibt in Macrons Gesetzes-Entwurf sogar eine Formulierung, dass betriebliche Vereinbarungen höher gestellt werden als nationale Gesetze. Das ist ein neoliberaler Putsch hoch sieben.
Leslie Franke: Das Verrückte ist doch, dass, sagen wir mal, bei BMW Arbeiter per Leiharbeit am Fließband beschäftigt werden, die so wenig Geld verdienen, dass sie zum Jobcenter gehen müssen, um aufzustocken.
Das heißt, wir subventionieren aus unseren Steuergeldern Gehälter, an denen die Unternehmer so sehr sparen, dass niemand davon leben kann. Umgekehrt bekommen die Unternehmen aber noch Steuererleichterungen vom Staat.
Was bringt es mit sich, wenn der beste Arbeiter der ist, der zu möglichst niedrigem Lohn arbeitet und möglichst niedrige oder gar keine Sozialleistungen mehr beansprucht?
Leslie Franke: Er verliert auch an Mitspracherecht, an Demokratie. Das ist uns ganz wichtig zu erzählen. Wenn du ein Multijobber bist, hast du keine Zeit mehr, um dich zu engagieren. Für Zeit- oder Leiharbeiter gibt es kaum noch gewerkschaftliche Organisationen. Es gibt keine Solidarität mehr. Jeder vereinzelt.
Auf eurer Website weist ihr daraufhin, dass man sich in unserer Gesellschaft von klein auf an diesen Wettbewerb gewöhnt. Was meint ihr damit genau?
Herdolor Lorenz: Das wird schwierig zu erzählen sein, aber es ist doch so, die Verantwortung wird individualisiert. Wenn ein Arbeitnehmer es nicht in einen Job schafft, dann fühlt er sich schuldig und macht alles, damit er auf diesem Markt doch noch irgendwie bestehen kann. Der Blickwinkel, dass die Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt, verschwindet. Kinder müssen sich heute schon früh entscheiden, wenn sie eine gute berufliche Perspektive haben wollen. Wir haben das Gefühl, dass Schüler heute eine wesentlich höhere Zukunftsangst haben als wir früher.
Leslie Franke: Sie werden auch sehr einseitig fokussiert. Zum einen gibt es diese erschreckende Digitalisierung, die Schüler zu kurzfristigem Denken zwingt. Selbständiges, freies Denken geht dabei immer mehr verloren. Außerdem werden Unterrichtsinhalte zusehends von der Industrie mitbestimmt. Da kommt ja viel von der Bertelsmann-Stiftung, einer der größten privaten Medienkonzerne der Welt, der ganz klar die Interessen der Wirtschaft vertritt.
Wie das?
Herdolor Lorenz: Die Hochschulreform nach dem Bologna-Modell ist mehr oder weniger dort entwickelt worden. Seitdem sind auch die sozialen Strukturen an den Universitäten aufgelöst worden, die Vereinzelung beginnt schon im Studium. Das Interessante daran ist, dass es sich bei Bertelsmann eigentlich um einen Medienkonzern handelt, der sich durch die Gestaltung als Stiftung vor der Steuerzahlung drückt und gleichzeitig die Macht hat, Bildung, Medien-Inhalte und letztlich auch Politik zu beeinflussen.
Leslie Franke: Ein anderes Beispiel, wie stark die Interessen der Wirtschaft unsere Gesellschaft dominieren, ist auch die Entstehung von Forschungsaufträgen. Es gibt an Universitäten vielfach nur noch Forschungen, die von einem Wirtschaftsunternehmen gesponsert werden. Damit haben wir überhaupt keine unabhängige Forschung mehr. Und damit werden aber auch die Studenten schon gleich auf die marktgerechte Schiene eingefahren.
Herdolor Lorenz: Wir waren für unseren letzten Film in einer Universität in Spanien, da besteht schon der Studentenausweis aus einer Kreditkarte der Santander-Bank.
Nun könnten die Studenten ja auch sagen: Ich finde es gut, so viel wie möglich zu leisten und an meine Grenzen zu gehen. Das verschafft mir Erfolgserlebnisse. Wie sieht es mit dieser Logik aus?
Herdolor Lorenz: Wir haben gerade eine Studie der DAK entdeckt, in der untersucht wurde, wie Menschen in Deutschland schlafen. Sie hat herausgefunden, dass inzwischen vier von fünf Beschäftigten massive Schlafprobleme haben. Seit 2010 hat sich die Zahl der Betroffenen um sechzig Prozent erhöht. Eine große Problematik, die bei dieser Studie zutage trat, war der Fakt, dass bei den meisten Beschäftigten die Verfügbarkeit über den Feierabend hinaus bis nach Hause reicht. Hier werden vor allem die digitalen Medien zum Fluch. Aber auch das ständige Nachdenken darüber, wie man sich noch besser profilieren kann, kann ja Schlaf rauben.
Wie könnt ihr davon in eurem Film erzählen? Diese Phänomene spielen vermutlich in fast jeder Branche eine Rolle.
Herdolor Lorenz: Wir haben uns hier erst einmal auf die Krankenhäuser konzentriert, die sich durch die Einführung der Fallpauschalen sehr verändert haben. Seither hat jede Diagnose einen Preis. Kliniken, denen der Preis für die Behandlung ausreicht, können nun erstmals Gewinne machen. Oder Verluste, wenn ihnen der Preis nicht ausreicht.
Das hat einen gnadenlosen Wettbewerb ausgelöst. Privatisierte Krankenhäuser konzentrieren sich in der Regel auf finanziell attraktive Fallpauschalen und sparen am radikalsten am Personal. Hier kommt noch ein weiterer Aspekt dazu, nämlich wie sich der Patient unter den Gesetzen des freien Marktes verändert. Er wird – kurz gesagt – zu einer Maschine gemacht, die man repariert.
Das Krankenhaus ist nur noch ein Dienstleistungsunternehmen, und sieht in einem Patienten nur die Fallpauschale. Ist die Fallpauschale teuer, hilft sie, den Betrieb gewinnbringend zu halten. Patienten mit einer niedrigpreisigen Krankheit werden dagegen gefürchtet, weil sie Verlust bringen.
Leslie Franke: Interessant wird ein Patient für das Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus also erst, wenn er eine möglichst teure Operation oder Behandlung „braucht“. Dann müssen eben 90-Jährige noch eine künstliche Herzklappe bekommen. Es werden also Dinge gemacht, die nichts mit den Menschen zu tun haben, sondern vor allem einen wirtschaftlichen Nutzen für das Unternehmen darstellen.
Herdolor Lorenz: Dazu kommt eben auch, dass die Zuwendung zum Patienten nicht bezahlt wird. Die Ärzte informieren die Patienten in fünf Minuten von einer komplizierten Operation, und viele vertrauen dann eben den Ärzten und lassen Dinge mit sich machen, die nicht zwingend notwendig und oftmals auch riskant sind.
Leslie Franke: Die Ärzte haben auch oft gar keine Zeit für Gespräche. Wir haben gerade mit einem Arzt gesprochen, der ist am Wochenende mit 40 Patienten allein auf einer Station. Und dann kommt noch dazu, dass alle Leistungen korrekt abgerechnet werden müssen, damit sie von den Krankenkassen bezahlt werden. Inzwischen beschäftigen sich viele Ärzte über die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit der Dokumentation ihrer Tätigkeit, damit sie abgerechnet wird.
Mit den knapp bemessenen Fallpauschalen können sie ihre Station kaum am Laufen halten. Deswegen gibt es generell zu wenig Personal, viele Arbeitsbereiche wie Verpflegung oder Reinigung werden outgesourct. Die entsprechenden Mitarbeiter werden in der Regel unter Tarif bezahlt.
Das bekommen auch die Patienten zu spüren. Wer nur eine finanziell unattraktive „Fallpauschale“ ist, wird entsprechend nachlässiger behandelt als der Patient mit der „hochwertigen Diagnose“. Andererseits stehen die Ärzte oft vor schweren Entscheidungen. Im Zweifelsfall hilft eine teure Operation vielleicht nicht dem betroffenen Patienten, dafür aber der gesamten Station, weil sie sich jetzt eine Arbeitskraft mehr leisten kann.
Es folgt alles nur noch dem Gesetz der Effizienz. Ein privates Krankenhaus ist angehalten jährlich einen Gewinn von 11 Prozent zu machen. Ein Krankenhaus! Das muss man sich mal vorstellen!
Aber auch die kommunalen müssen auf diese Weise ums Überleben kämpfen, weil sie auch mit diesem Fallpauschalensystem arbeiten müssen. Und sobald sie in ein Minus kommen, werden sie entweder geschlossen oder die Filetstücke privatisiert.
Was ist mit den Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern, die unter solchen Umständen arbeiten müssen? Wisst ihr schon, was ihr über die erzählen könnt?
Leslie Franke: Die PflegerInnen trifft es besonders schlimm, weil sie ja mit den Menschen arbeiten. Es wird auf der einen Seite an ihre Verantwortlichkeit appelliert, aber auf der anderen Seite haben sie keine Zeit und oft auch keine Kraft mehr, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Was macht so jemand, wenn er endlich frei hat und dann ein Notruf kommt, dass Kollegen ausgefallen sind. Auf der einen Seite können sie selbst nicht mehr, auf der anderen Seite wissen sie, dass die Patienten den Pflegenotstand auszubaden haben, wenn sie zu Hause bleiben. Infolge der Überbelastung reduzieren viele ihre Arbeitszeit, was aber wiederum finanzielle Einbuße bedeutet. Manche verlassen den Job aber auch. Von einem Schwesternlehrgang erreichen viele nicht einmal das Ende der Ausbildung. Die sehen in den ersten Praktika, was sie erwartet, und suchen sich eine andere Ausbildung.
Manche PflegerInnen fangen auch an, sich politisch zu engagieren. Bei Verdi gibt es da ja inzwischen einige Initiativen. Manche wenden sich auch an die Medien, aber da gibt es viel Angst, dass die Leute ihren Job verlieren, wenn die Geschäftsleitung das herausbekommt.
Herdolor Lorenz: Aber man muss auch sagen, dass die Ärzte unter enormem Druck stehen. Eigentlich haben sie ja gelernt, selbständig Diagnosen zu treffen, sich Zeit für den Patienten zu nehmen, ihn möglichst ganzheitlich zu betrachten. Das kannst du in der Praxis alles vergessen. Wenn du deine Abteilung nicht gefährden willst, musst du den Patienten gefährden.
Leslie Franke: Die müssen sich ja jeden Monat vor der Geschäftsleitung dafür rechtfertigen, wenn sie nicht genug Operationen gemacht haben. Sie müssen vierteljährliche Planziffern erfüllen. Das macht die auch psychologisch fertig.
Die, mit denen wir sprechen, sagen, sie gehen jeden Abend völlig erschöpft nach Hause und haben trotzdem das Gefühl, dass sie nicht getan haben, was sie eigentlich hätten tun müssen.
*Und das alles nur, damit ein paar Eigentümer ihre Gewinne einfahren können und der Staat nicht mehr für die medizinische Versorgung seiner Bürger verantwortlich ist. *
Herdolor Lorenz: Für uns sind Krankenhäuser das beste Beispiel, um zu zeigen, wie gefährlich Wettbewerb sein kann. Die Verwandlung der Krankenhäuser in profitorientierte Wirtschaftsbetriebe schadet am Ende allen Beteiligten. Wir beleuchten in unserem Film aber noch andere Branchen, die Schwachstellen sind am Ende überall dieselben.
Die Politik zieht sich aus der Verantwortung und die Beschäftigten bezahlen die Rechnung.
Das klingt nach einer ziemlich düsteren allgemeinen Perspektive. Habt ihr Ideen, auf welchem Wege man dieser Marktkonformisierung der Gesellschaft entkommen kann?
Herdolor Lorenz: Das Stichwort heißt auf jeden Fall Solidarisierung. Das Bedürfnis nach Solidarität und nach Sinnhaftigkeit nimmt massenhaft zu. Die Leute haben immer weniger Lust auf diese Vereinzelung und suchen sich Alternativen, in denen sie Gemeinschaften ohne Konkurrenz erleben können. Da ist auch politisches Handeln wieder im Trend, wie ja die großen Anti-TTIP-Demos gezeigt haben. Manche müssen dort erst wieder lernen, was es eigentlich heißt, miteinander zu agieren.
Leslie Franke: Ein anderes Beispiel ist die Initiative der Gemeinwohl-Ökonomie. Hier geht es nicht vornehmlich um den maximalen Gewinn, sondern die Unternehmen werden daraufhin geprüft, inwieweit sie höhere Standards in Bezug auf sozial verträgliche Arbeitsbedingungen oder Umweltschutz erfüllen. Wer diese Standards erfüllt, kann Mitglied in einer Unternehmensgemeinschaft werden, die solidarisch miteinander verbunden ist. Gerade in Bayern gibt es immer mehr Betriebe, die dieses Zertifikat erwerben und zeigen, dass Wirtschaft auch anders geht.
Herdolor Lorenz: Wir glauben jedenfalls nicht, dass einfach nur eine neue Partei an die Macht kommen braucht, die jetzt alles anders macht. Die Gesellschaft braucht einen grundlegenden Wandel, und der muss von unten kommen. Hier muss ein Umdenken stattfinden. Und das geschieht ja auch schon.
**Zum Beispiel, indem Menschen einen Film finanzieren, der von den Zwängen erzählt, die uns alle betreffen. Bis wann kann man sich an der Unterstützung eures aktuellen Projektes beteiligen?
Leslie Franke: Der Film soll Ende 2018 fertig werden. So lange nehmen wir auch jede Unterstützung sehr gern entgegen.
Dann wünsche ich euch viel Glück und bedanke mich für das interessante Gespräch.
»Die Chefs üben offenbar großen Druck aus«
Ein Dokumentarfilm will prekäre Arbeit in der BRD beleuchten. Doch wenige Betroffene wollen sich öffentlich äußern. Ein Gespräch mit Leslie Franke
Junge Welt, Ausgabe vom 03.07.2017,
Interview: Ben Mendelson
Immer auf Abruf, sechs Tage die Woche, 24 Stunden am Tag: Arbeiterin bei Foodora
Foto: Andreas Arnold/dpa-Bildfunk
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Leslie Franke ist Regisseurin und Mitbegründerin der Kern-Filmproduktion. Derzeit arbeitet sie mit Herdolor Lorenz an dem Dokumentarfilm »Der marktgerechte Mensch«Die Kampagne, um den Film zu finanzieren, wurde bis zum 1. September verlängert. Mehr Informationen: www.marketable-people.org
Sie suchen derzeit Menschen, die bereit sind, in Ihrem neuen Film »Der marktgerechte Mensch« aufzutreten: neben »Aufstockern« und Personen mit mehreren Jobs, die trotzdem kaum über die Runden kommen, gerade Beschäftigte, die mit sogenannten Bereitschaftsverträgen angestellt sind. Was ist problematisch an diesem besonderen Arbeitsverhältnis?
Den Mitarbeitern mit solchen Verträgen wird zugesagt, dass sie zehn bis 15 Stunden in der Woche arbeiten dürfen. Sie müssen sich aber sechs Tage die Woche bis zu 24 Stunden am Tag auf Abruf zur Verfügung halten. Diese Bereitschaft wird von Lieferdiensten wie Foodora verlangt, ebenso bei der Textilkette H&M. Und dieses Beschäftigungsverhältnis scheint sich in diesen Sektoren weiter auszuweiten. Aus meiner Sicht ist das eine moderne Form der Sklaverei. Sie können keine andere Arbeit annehmen, obwohl viele noch nicht mal auf die versprochenen zehn Stunden pro Woche kommen.
Wie reagieren die Beschäftigten darauf?
Ich würde mich freuen, wenn sie sich untereinander solidarisieren würden. Aber da die meisten versuchen, ihren Kollegen die Stunden abzujagen, um selbst über die Runden zu kommen, sehe ich dafür wenig Chancen.
Hat sich dazu jemand vor der Kamera geäußert?
Wir sprechen derzeit mit vielen Leuten, finden aber niemanden, der bereit ist, sich auch vor die Kamera zu stellen. Die Chefs üben offenbar großen Druck aus.
Zu welchem Arbeitssektor recherchieren Sie aktuell noch?
Derzeit arbeiten wir in Deutschland viel zum Gesundheitswesen. 2004 wurden die Kliniken mit der Einführung der Fallpauschale marktgängig gemacht. Jede Diagnose hat seitdem einen festen Preis, den die Krankenkassen bezahlen. Deshalb konkurrieren die Krankenhäuser um die Patienten, es hat sich längst ein Wettbewerb etabliert. Da gibt es kaum Unterschiede zwischen kommunalen, landeseigenen und privaten Krankenhäusern. Alle arbeiten gewinnorientiert.
Viele Kliniken wie die Charité oder Vivantes in Berlin gründen Tochtergesellschaften. Die dort Beschäftigten werden nicht nach Tarif bezahlt und bekommen oft zwischen 400 und 800 Euro weniger im Monat als ihre Kollegen. Gespart wird bei den Pflegekräften, bei Putzkräften und bei den Menschen, die für Bluttransporte, das Sterilisieren der Instrumente oder den Weg in den OP zuständig sind.
Welche weiteren Konsequenzen hat diese Ausrichtung an Wettbewerb und Markt?
Die Patienten werden eingeteilt in lukrative und nicht lukrative Fälle. Wer mit einer Krankheit eingeliefert wird, für deren Behandlung es nur wenig Geld gibt, wird möglichst schnell abgewickelt oder sogar abgewiesen. Die meisten Krankenhäuser haben in unrentablen Abteilungen Personal abgebaut, die Notaufnahmen sind völlig unterbesetzt. Denn dort bekommt das Krankenhaus für einen aufgenommenen Patienten, der zum Beispiel einen Herzinfarkt hat, nur geringe Beträge. Das deckt nie und nimmer die Kosten. Wenn aber jemand mit Rückenschmerzen in die Klinik kommt und man ihm in fünf Minuten eine Operation aufschwatzen kann, werden 30.000 Euro und mehr gezahlt. Dann jubelt die Klinikleitung. In Hessen werden viele Rückenoperationen durchgeführt, andernorts besonders häufig Kaiserschnitte. Nur, weil dort Kliniken sind, die ausgelastet werden müssen, um Gewinne zu erzielen.
Diese Änderungen werden doch auch die Ärzte spüren.
Für sie ist die Situation verrückt. Früher musste der Arzt darauf schwören, dass er sein ganzes Augenmerk auf das Wohl des Patienten richtet. Heute bekommen die Ärzte Bonuszahlungen, wenn sie möglichst viele lukrative Diagnosen in kurzer Zeit stellen. Andernfalls könnten ihre Stationen geschlossen oder Pflegerinnen entlassen werden. Uns haben viele Ärzte berichtet, dass diese Situation nichts mehr mit ihrem eigentlichen Beruf zu tun hat. Sie werden dazu genötigt, möglichst viele Operationen zu machen – auch dann, wenn es nicht nötig ist. Am Ende bleibt der möglichst marktgerechte Patient, dessen Wohl längst nicht mehr im Mittelpunkt steht.
Kino von unten ... Leslie Franke im Gespräch (SB)
Schattenblick - Filmkultur sozial bewegt Interview in Hamburg-Rotherbaum am 7. September 2016
Leslie Franke ist Dokumentarfilmerin und lebt in Hamburg. Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Herdolor Lorenz [1] hat sie mehrere Filme gedreht, die sich kritisch mit der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus, den sozialen Folgen der neoliberalen Marktwirtschaft und sozialökologischen Problemen, die bei der Privatisierung der lebenswichtigen Ressource Wasser entstehen, auseinandersetzen. Am Rande einer Veranstaltung der Gewerkschaftslinken Hamburg, bei der eine Delegation von Eisenbahngewerkschaftern aus Japan über ihre Arbeitskämpfe vor dem Hintergrund der Atomkatastrophe von Fukushima berichtete [2], beantwortete Leslie Franke dem Schattenblick einige Fragen zu ihren bisherigen Produktionen und der besonderen Art und Weise, wie die beiden Filmemacher ihr Medium dazu nutzen, das Publikum aktiv am Zustandekommen und der Verbreitung politisch wichtiger Aufklärung zu beteiligen und so in Bewegung zu bringen.
Schattenblick (SB): Euer neues in Arbeit befindliche Filmprojekt heißt "Der marktgerechte Mensch". Worum geht es dabei?
Leslie Franke (LF): Das Filmprojekt beschäftigt sich mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Angefangen hat diese Entwicklung hauptsächlich mit der Schröder-Regierung und der Einführung von Leiharbeit, Werkverträgen, unbefristeter Arbeit usw. Im gleichen Zuge wurden alle Arbeitsschutzrichtlinien und -standards weitgehend zusammengestrichen. Unser Thema ist im Prinzip: Welche Ursachen hat diese Entwicklung, wie war sie durchzusetzen, was macht sie mit den Menschen und der Gesellschaft?
SB: Welches Konzept steckt hinter eurem Film, basiert es vor allem auf Interviews oder geht es mehr um die Chronologie der staatlichen Maßnahmen?
LF: Wir haben verschiedene Bereiche im Blick, aber den Drehplan machen wir erst jetzt. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit der Gesundheitsreform und dem Pflegenotstand. So tritt im Film zum Beispiel ein Trucker auf, um die Frage zu beleuchten, was die Öffnung der Grenzen und der Abbau der arbeitsrechtlichen Standards, die in Brüssel verfügt wurden, für die Fernfahrer und ihre Arbeit bedeutet. Zu den verschiedenen Arbeitsfeldern, die wir untersuchen wollen, gehören unter anderem die Leih- und Werk-, aber auch die Internetarbeit, wo zumeist jungen Leuten versprochen wird, sie seien frei in ihrer Arbeitseinteilung.
Letztendlich ist es jedoch eine Form von Sklavenarbeit, weil man nur auf Abruf angestellt wird und den Arbeitsvertrag, sofern man überhaupt einen bekommt, mit dem jeweiligen Arbeitgeber individuell abstimmen muß. Dabei herauszuarbeiten, daß die Arbeitsmarktderegulierung den Menschen total in die Vereinzelung treibt, ist uns ganz besonders wichtig, weil so jede Form von Solidarität unmöglich gemacht wird und jeder gezwungen ist, nur noch für sich allein zu kämpfen. So hat die französische Regierung ein Arbeitsgesetz durchgebracht, dessen zentraler Punkt darin besteht, daß jeder einzelne mit seinem Arbeitgeber die Bedingungen seiner Arbeit aushandelt. Das wirft uns, ich würde sagen, in frühindustrielle Verhältnisse und damit um Jahrhunderte zurück und hebt all das, was seitdem erkämpft worden ist, mit einem Federstrich wieder auf.
Wir wollen damit keineswegs sagen, daß früher alles besser war. Die Arbeitsbedingungen haben sich verändert, und natürlich muß man darüber nachdenken, wie man mit dieser Veränderung umgehen kann. Aber einen Arbeitsschutz muß es weiterhin geben, sowohl auf dem Arbeitsplatz als auch hinsichtlich der Verträge und der sozialen Absicherung durch die Rente. Denn eine Arbeit auf Honorarbasis provoziert eine unheimliche Arbeitsarmut. Es ist schon jetzt abzusehen, worauf das Ganze hinausläuft. An der Art und Weise, wie im Zuge der Finanzkrise praktisch alle sozialen Standards ausgehebelt wurden und den südlichen Staaten eine Austeritätspolitik aufgezwungen worden ist, kann man leicht erkennen, was passiert, wenn diese Bestimmungen aus den Angeln gehoben werden. Nachdem dieses neoliberale Modell in der Hauptsache bei uns in Deutschland unter Gerhard Schröder eingeführt wurde, wird jetzt versucht, es für ganz Europa festzuschreiben.
SB: Ihr greift im Grunde ein klassisches Thema der Linken auf, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit in seiner grundlegenden Widersprüchlichkeit allerdings nur noch randläufig behandelt. Welche persönliche Motivation hattest du, dich diesem nicht unbedingt wohlgelittenen Thema zuzuwenden?
LF: Dennoch ist es total populär, weil es uns allen auf den Fingern brennt. Amazon ist natürlich exemplarisch für diese Entwicklung, aber es gibt um uns herum verschiedene andere Beispiele, wo die Leute um Sicherheit ringen, aber nur Verträge für drei oder sechs Monate, vielleicht mal für ein Jahr kriegen und nicht wissen, wie es mit ihnen hinterher weitergeht. Auch im Schulwesen gibt es mehr und mehr befristete Lehrer, die in den Sommerferien freigestellt werden und nicht wissen, ob sie im September wieder angestellt werden, und das, obwohl sie dringend gebraucht werden. Darauf den Blick zu richten, was es mit den Menschen macht, wenn sie nicht wissen, wovon sie morgen oder übermorgen leben sollen, ist meine persönliche Motivation, denn daß der Mensch sich ernähren können muß, ist etwas Grundlegendes.
So wie ich es sehe, gebiert dieser haltlose Zustand den ganzen Auswuchs an Angst in der Gesellschaft vor den Fremden. Jahrzehntelang konnte man in der Bundesrepublik ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit in Anspruch nehmen, doch dies fällt seit einiger Zeit in sich zusammen. Die Leute merken es nun und bekommen Angst, daß ihnen das, was von diesen Sicherheiten geblieben ist, auch noch weggenommen wird. Diese Angst in der Gesellschaft, die die rechten Kräfte stärkt und aufbläht, berührt und beschäftigt mich, weil man sie nicht mehr in den Griff zu bekommen scheint.
SB: Der Verwechslung, daß der Fremde der Feind sei, entgegenzutreten und gleichzeitig die wirklichen Machtverhältnisse zu hinterfragen, ist das der Antrieb deiner Arbeit?
LF: Ja, daß die Angst in eine falsche Richtung fokussiert wird. Mit unseren politischen Aufklärungsfilmen wollen wir den Menschen zeigen: Hey, das ist nicht dein individuelles Problem, und auch der Nachbar oder der Flüchtling sind nicht schuld daran, sondern es ist ein systemisches Problem und hat etwas mit der Entwicklung der Gesellschaft zu tun. Aber du als Bürgerin oder Bürger hast die Möglichkeit, dich dagegen zu wehren. Meines Erachtens kann nur die Zivilgesellschaft echten Widerstand aufbauen, denn die Politiker stehen so unter der Kuratel des Finanzkapitals, diesem ganzen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck, daß ich ihnen nicht mehr vertraue. Natürlich möchte ich, daß die Leute zu den Wahlurnen gehen, aber sie müssen auch etwas fordern und sich nicht wie Schäfchen von allen möglichen politischen Richtungen einsacken lassen.
SB: Könntest du noch ein paar Worte zu euren bisherigen Filmen sagen?
LF: Herdolor Lorenz und ich arbeiten seit über 30 Jahren im Dokumentarbereich. In den letzten zehn Jahren haben wir uns mit Fragen der Daseinsvorsorge beschäftigt. Darunter fällt Gesundheit, Bildung, Mobilität und so weiter, also die grundsätzlichen Bereiche, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Ein wichtiger Punkt ist dabei Wasser. Mit der Problematik dieses Lebenselexiers haben wir uns lange und intensiv auseinandergesetzt. Wasser ist auch ein politisches Druckmittel. Den ersten Film zu diesem Thema - "Das blaue Gold im Garten Eden" - habe ich 2003 gemacht. Dabei ging es um die Wasserfrage im Länderdreieck Türkei-Syrien-Irak, die jetzt zu einem Riesenproblem explodiert ist, denn Euphrat und Tigris entspringen in der Türkei. Türkische Politiker haben immer gesagt: Wir sitzen an den Wasserhähnen und bestimmen, was in der Region passiert.
SB: Inwieweit könnte in Anbetracht deiner Recherchen die Wasserknappheit eine Rolle gespielt haben beim Ausbruch der Feindseligkeiten in Syrien?
LF: Kriege in dieser Region gehen in der Regel um Öl und Macht, aber in diesem konkreten Fall geht es ganz klar auch um Wasser. In dieser Auseinandersetzung hat die Türkei immer wieder Druck auf Syrien ausgeübt. Als die PKK noch Lager in Nordsyrien hatte und Öcalan von dort aus den kurdischen Widerstand in der Türkei organisierte, hat die türkische Regierung explizit damit gedroht, den Zufluß von Wasser zu drosseln, sollte Syrien die PKK-Lager nicht schließen. Mit ihrem Staudammsystem hätte die Türkei jederzeit die Möglichkeit dazu gehabt. Ohne Wasser wäre Syrien wie eine Pflanze unter sengender Sonne verdorrt. Daraufhin sind die Lager in Syrien aufgelöst worden. Diesen Druck übt die Türkei nach wie vor aus. Die Wasserfrage ist ein starkes politisches Mittel.
SB: Wie ging es weiter in der Chronologie eurer Filme?
LF: Als wir dort in der Wüste waren und kein Wasser hatten, wurde mir die ganze Dimension des Problems schlagartig bewußt. Wir sind es gewohnt, den Wasserhahn aufzudrehen und jederzeit fließendes Wasser zu einem sozial verträglichen Preis zu haben. In den meisten Regionen Deutschlands ist es sogar trinkbar, dies gilt besonders für Hamburg - bis jetzt jedenfalls. Aber in Syrien ist es ganz anders. Dort gibt es mitunter stundenlang kein Wasser und trinkbar ist es ohnehin nicht. Überall, wo Wasser privatisiert ist wie in England oder früher in Uruguay und Argentinien, hat sich der Preis so verteuert, daß die Leute sich das tägliche Wasser zum Trinken nicht mehr leisten konnten.
Das hat uns zu der Frage geführt: Was sind das für Konzerne, die unser Lebenselexier privatisieren? Nur wer bezahlt, darf Wasser trinken, wer es sich nicht leisten kann, muß verdursten. Unser erster gemeinsamer Film hieß "Wasser unterm Hammer". In ihm haben wir die Teilprivatisierung der Wasserversorgung in Berlin mit Veolia und RWE in Kiel vor dem Hintergrund der englische Erfahrungen beschrieben. Margaret Thatcher hatte in ihrer Amtszeit die Wasserversorgung komplett in private Hände gelegt. In England gibt es mittlerweile zehn Wasserversorger. Damals hatte RWE Thames Water übernommen, doch 2005 wieder aus imageschädigenden Gründen abgestoßen.
SB: Was hat euch dann veranlaßt, den Film "Water Makes Money" zu drehen?
LF: In "Wasser unterm Hammer" hatten wir die Privatisierung zum Thema gemacht, aber in Frankreich sprechen die beiden französischen Konzerne Suez und Veolia nicht etwa von Privatisierung, sondern von Public Private Partnership. Von daher nimmt "Water Makes Money" die beiden weltgrößten privaten Wasserversorger vor allem hinsichtlich der drastischen Veränderungen in ihrem Heimatland Frankreich, wo die Wasserversorgung zu 75, 80 Prozent privatisiert war, unter die Lupe. Interessant daran ist, daß Public Private Partnership natürlich die beste Form ist, sozusagen in privater Betreiberschaft viel Geld aus der Wasserversorgung herauszuziehen, zumal die Öffentlichkeit die Kosten trägt. Public Private Partnership hat insbesondere in Frankreich viel damit zu tun, daß die Konzerne mit den Politikern enge Beziehungen aufgebaut haben, die dementsprechend Korruption begünstigen. Die Konzerne gaben den Politikern vor, welche Gesetze sie beschließen sollten, damit dies mit ihren Bauvorhaben d'accord gehen konnte. Durch Bestechung von Politikern wurde die Wasserversorgung in den französischen Städten reihum privatisiert. In der Folge mußten die Gemeinden viel zu viel für Wasser zahlen, und auch die Wasserqualität verschlechterte sich durch den Einsatz von Chlor. Zudem wurden die Rohre nicht repariert, wodurch ein hoher Wasserverlust entstand.
SB: 2015 wurde dann euer bislang letzter Film vorgestellt.
LF: Das war "Wer rettet wen? Die Krise als Geschäftsmodell". Dieser Film beleuchtet die Ursachen der Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Zukunft. "Der marktgerechte Mensch" ist quasi eine Fortführung dieses Films.
SB: Für "Der marktgerechte Mensch" habt ihr eine Crowdfunding-Aktion in Gang gesetzt. Gibt es keine öffentlichen Fördermittel, die ihr in Anspruch nehmen könntet?
LF: Nach "Wasser unterm Hammer", "Water Makes Money" und "Wer rettet wen?" ist "Der marktgerechte Mensch" unser vierter Film, den wir mit Crowdfunding finanzieren, nur daß wir dazu Subskription sagen. Der Unterschied ist uns wichtig, weil wir nicht über fremde Plattformen gehen, sondern unser Projekt auf unserer eigenen Webseite vorstellen. Jeder, der 20 Euro und mehr spendet, bekommt nach Fertigstellung des Films eine DVD zugeschickt und kann damit nichtkommerzielle Vorführungen machen.
Bereits nach dem ersten Projekt haben wir gelernt, daß es nicht nur auf die finanzielle Unterstützung ankommt. Viel wichtiger ist, daß alle, die sich an der Fertigstellung des Films beteiligen, Verantwortung dafür übernehmen, den Film nicht nur selbst zu sehen, sondern ihn auch anderen zu zeigen. Auf diese Weise wird die Thematik in die Breite der Gesellschaft getragen. Das Kino ist natürlich ein starker Impulsgeber, aber dadurch, daß der Film auch in Kneipen, Wohn- und Stadtteilgruppen als auch in Schulen und Universitäten, meistens in Verbindung mit Diskussionen, gezeigt wird, bilden sich häufig auch Bürgerinitiativen, weil die Leute eine Idee davon bekommen, was auf dem Spiel steht. Das ist der eigentliche Wert von Subskription.
SB: Hat es in den Leitmedien Rezensionen über eure Filme gegeben oder hat man euch eher ignoriert?
LF: Eher letzteres. "Bahn unterm Hammer" hatten wir dem Fernsehen angeboten, aber sie wollten nichts davon wissen und haben gesagt: Was interessiert es den Bürger, daß die Bahn an die Börse geht. Aber in dem Moment, als der Film überall in den Kinos lief und Leute Kampagnen gemacht haben, wurde das Thema über Monitor und Tagesthemen plötzlich in die Medien gehoben. Was unsere Filme über die Wasserproblematik anbelangt, hat außer der taz, dem Hamburger Abendblatt und der Süddeutschen Zeitung niemand darüber berichtet. Erst als Veolia gegen "Water Makes Money" einen Prozeß führte, entstand mehr mediale Aufmerksamkeit, aber ansonsten wurde das Thema Privatisierung und Rekommunalisierung von Wasser häufig schlicht vermieden. Das betraf nicht nur unseren Film, sondern eine ganze Reihe von Referenden wie zum Beispiel in Berlin, wo die Offenlegung der Verträge gefordert wurde. Obwohl unsere Filme sehr erfolgreich waren, haben sich die Medien meist nicht eingeklinkt, was aber auch klar ist, denn wir machen die Filme ja kontramedial.
SB: Und wie war die Resonanz seitens der gesellschaftlichen Öffentlichkeit?
LF: Allein in Deutschland gab es 730 Veranstaltungen seit der Premiere von "Wer rettet wen?" im letzten Jahr. Trotzdem treffe ich auf Veranstaltungen immer wieder Leute, die von uns oder dem Film noch nie etwas gehört haben. Zur Premiere des Films gab es einige sehr schöne Berichte in verschiedenen Programmen und Zeitungen, aber danach hat es trotz der zahlreichen Vorführungen des Films kaum noch Reaktionen gegeben. Wir erzählen eben in unserem Film Dinge, die in den Medien ganz anders dargestellt werden, das macht es so schwierig.
SB: Vor dem Hintergrund deiner langen Erfahrung im Bereich Dokumentarfilm einmal gefragt: Wie ist die heutige Situation von Dokumentarfilmern, die natürlich auf öffentlich-rechtliche Medien angewiesen sind?
LF: Es gab einmal eine Phase, wo es besser ging. Im Moment habe ich das Gefühl, daß es wieder richtig absackt und Medien und Fernsehen ziemlich gleichgeschaltet werden. Wenn man sich anschaut, wer in den Rundfunkräten sitzt, ist das nachlassende Interesse nicht verwunderlich. Daß "Die Anstalt" überhaupt noch existiert, finde ich grandios. Im Augenblick läuft eine Petition, das Kabarett nicht so spät auszustrahlen, sondern auf 20.15 Uhr vorzuverlegen. Die Petition sollte jeder unterschreiben, denn die Sendung ist eine Ausnahmeerscheinung.
Ich möchte gar nicht bestreiten, daß auch gute Filme gemacht werden, aber sie werden immer mehr in die Spätprogramme gedrückt. Unser Film "Wer rettet wen?" macht ja einen Bogen von den Ursachen bis zu den Auswirkungen in der Zukunft. Was sonst zu diesem Thema gezeigt wurde, betraf eher die Symptome der Krise. Aber niemand spricht darüber, wie Konzerne und Institutionen überhaupt eine solche Machtkonzentration erreicht haben. Das ist auch meine Kritik an die Adresse des Fernsehen. Man versucht, die Hintergründe einfach wegzulassen oder Filme, die dies nicht tun, in wenig frequentierte Tageszeiten oder Spartenprogramme auszulagern.
SB: Kannst du dir vorstellen, daß alternative Formen des Filmemachens, aber auch der Aufführung von Filmen, wie es sie in den 60er und 70er Jahren in Ansätzen gab, vielleicht noch einmal zu einer Art Gegenbewegung führen?
LF: Ja unbedingt. So haben beispielsweise die Crowdfunding-Bewegungen über ihre Plattformen im Internet einen wahnsinnigen Schub gekriegt, daß Leute anfangen, unabhängig vom Fernsehen oder der Filmförderung Filme mit hohem Aufklärungsanspruch zu machen. Ich denke schon, daß es möglich ist. Ich möchte jedoch noch anfügen, daß uns Arte bei "Water Makes Money" total unterstützt und den Film extra am Abend vor dem Prozeß noch einmal gezeigt hat. Am Prozeßtag selbst gab es noch ein Interview. Aber bei "Wer rettet wen?" wollten sie nicht mitgehen, und "Der marktgerechte Mensch" hängt noch in der Schwebe.
Zu diesem neuen Projekt haben wir am 1. September einen Spendenaufruf [3] gemacht, und das Echo ist wirklich toll. Daß so viele Leute gespendet und auch geschrieben haben: Es ist phantastisch, daß ihr euch diesem superwichtigen Thema zuwendet, über das keiner sprechen will - hat uns in unserer Arbeit unheimlich bestärkt.
SB: Leslie, vielen Dank für das Gespräch.
INTERVIEW/323: Mikroinitiative Gewerkschaftsbasen - Kino von unten ... Leslie Franke im Gespräch (SB)
Filmkultur sozial bewegt
Interview in Hamburg-Rotherbaum am 7. September 2016
Leslie Franke ist Dokumentarfilmerin und lebt in Hamburg. Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Herdolor Lorenz [1] hat sie mehrere Filme gedreht, die sich kritisch mit der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus, den sozialen Folgen der neoliberalen Marktwirtschaft und sozialökologischen Problemen, die bei der Privatisierung der lebenswichtigen Ressource Wasser entstehen, auseinandersetzen. Am Rande einer Veranstaltung der Gewerkschaftslinken Hamburg, bei der eine Delegation von Eisenbahngewerkschaftern aus Japan über ihre Arbeitskämpfe vor dem Hintergrund der Atomkatastrophe von Fukushima berichtete [2], beantwortete Leslie Franke dem Schattenblick einige Fragen zu ihren bisherigen Produktionen und der besonderen Art und Weise, wie die beiden Filmemacher ihr Medium dazu nutzen, das Publikum aktiv am Zustandekommen und der Verbreitung politisch wichtiger Aufklärung zu beteiligen und so in Bewegung zu bringen.
Schattenblick (SB): Euer neues in Arbeit befindliche Filmprojekt heißt "Der marktgerechte Mensch". Worum geht es dabei?
Leslie Franke (LF): Das Filmprojekt beschäftigt sich mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Angefangen hat diese Entwicklung hauptsächlich mit der Schröder-Regierung und der Einführung von Leiharbeit, Werkverträgen, unbefristeter Arbeit usw. Im gleichen Zuge wurden alle Arbeitsschutzrichtlinien und -standards weitgehend zusammengestrichen. Unser Thema ist im Prinzip: Welche Ursachen hat diese Entwicklung, wie war sie durchzusetzen, was macht sie mit den Menschen und der Gesellschaft?
SB: Welches Konzept steckt hinter eurem Film, basiert es vor allem auf Interviews oder geht es mehr um die Chronologie der staatlichen Maßnahmen?
LF: Wir haben verschiedene Bereiche im Blick, aber den Drehplan machen wir erst jetzt. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit der Gesundheitsreform und dem Pflegenotstand. So tritt im Film zum Beispiel ein Trucker auf, um die Frage zu beleuchten, was die Öffnung der Grenzen und der Abbau der arbeitsrechtlichen Standards, die in Brüssel verfügt wurden, für die Fernfahrer und ihre Arbeit bedeutet. Zu den verschiedenen Arbeitsfeldern, die wir untersuchen wollen, gehören unter anderem die Leih- und Werk-, aber auch die Internetarbeit, wo zumeist jungen Leuten versprochen wird, sie seien frei in ihrer Arbeitseinteilung.
Letztendlich ist es jedoch eine Form von Sklavenarbeit, weil man nur auf Abruf angestellt wird und den Arbeitsvertrag, sofern man überhaupt einen bekommt, mit dem jeweiligen Arbeitgeber individuell abstimmen muß. Dabei herauszuarbeiten, daß die Arbeitsmarktderegulierung den Menschen total in die Vereinzelung treibt, ist uns ganz besonders wichtig, weil so jede Form von Solidarität unmöglich gemacht wird und jeder gezwungen ist, nur noch für sich allein zu kämpfen. So hat die französische Regierung ein Arbeitsgesetz durchgebracht, dessen zentraler Punkt darin besteht, daß jeder einzelne mit seinem Arbeitgeber die Bedingungen seiner Arbeit aushandelt. Das wirft uns, ich würde sagen, in frühindustrielle Verhältnisse und damit um Jahrhunderte zurück und hebt all das, was seitdem erkämpft worden ist, mit einem Federstrich wieder auf.
Wir wollen damit keineswegs sagen, daß früher alles besser war. Die Arbeitsbedingungen haben sich verändert, und natürlich muß man darüber nachdenken, wie man mit dieser Veränderung umgehen kann. Aber einen Arbeitsschutz muß es weiterhin geben, sowohl auf dem Arbeitsplatz als auch hinsichtlich der Verträge und der sozialen Absicherung durch die Rente. Denn eine Arbeit auf Honorarbasis provoziert eine unheimliche Arbeitsarmut. Es ist schon jetzt abzusehen, worauf das Ganze hinausläuft. An der Art und Weise, wie im Zuge der Finanzkrise praktisch alle sozialen Standards ausgehebelt wurden und den südlichen Staaten eine Austeritätspolitik aufgezwungen worden ist, kann man leicht erkennen, was passiert, wenn diese Bestimmungen aus den Angeln gehoben werden. Nachdem dieses neoliberale Modell in der Hauptsache bei uns in Deutschland unter Gerhard Schröder eingeführt wurde, wird jetzt versucht, es für ganz Europa festzuschreiben.
SB: Ihr greift im Grunde ein klassisches Thema der Linken auf, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit in seiner grundlegenden Widersprüchlichkeit allerdings nur noch randläufig behandelt. Welche persönliche Motivation hattest du, dich diesem nicht unbedingt wohlgelittenen Thema zuzuwenden?
LF: Dennoch ist es total populär, weil es uns allen auf den Fingern brennt. Amazon ist natürlich exemplarisch für diese Entwicklung, aber es gibt um uns herum verschiedene andere Beispiele, wo die Leute um Sicherheit ringen, aber nur Verträge für drei oder sechs Monate, vielleicht mal für ein Jahr kriegen und nicht wissen, wie es mit ihnen hinterher weitergeht. Auch im Schulwesen gibt es mehr und mehr befristete Lehrer, die in den Sommerferien freigestellt werden und nicht wissen, ob sie im September wieder angestellt werden, und das, obwohl sie dringend gebraucht werden. Darauf den Blick zu richten, was es mit den Menschen macht, wenn sie nicht wissen, wovon sie morgen oder übermorgen leben sollen, ist meine persönliche Motivation, denn daß der Mensch sich ernähren können muß, ist etwas Grundlegendes.
So wie ich es sehe, gebiert dieser haltlose Zustand den ganzen Auswuchs an Angst in der Gesellschaft vor den Fremden. Jahrzehntelang konnte man in der Bundesrepublik ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit in Anspruch nehmen, doch dies fällt seit einiger Zeit in sich zusammen. Die Leute merken es nun und bekommen Angst, daß ihnen das, was von diesen Sicherheiten geblieben ist, auch noch weggenommen wird. Diese Angst in der Gesellschaft, die die rechten Kräfte stärkt und aufbläht, berührt und beschäftigt mich, weil man sie nicht mehr in den Griff zu bekommen scheint.
SB: Der Verwechslung, daß der Fremde der Feind sei, entgegenzutreten und gleichzeitig die wirklichen Machtverhältnisse zu hinterfragen, ist das der Antrieb deiner Arbeit?
LF: Ja, daß die Angst in eine falsche Richtung fokussiert wird. Mit unseren politischen Aufklärungsfilmen wollen wir den Menschen zeigen: Hey, das ist nicht dein individuelles Problem, und auch der Nachbar oder der Flüchtling sind nicht schuld daran, sondern es ist ein systemisches Problem und hat etwas mit der Entwicklung der Gesellschaft zu tun. Aber du als Bürgerin oder Bürger hast die Möglichkeit, dich dagegen zu wehren. Meines Erachtens kann nur die Zivilgesellschaft echten Widerstand aufbauen, denn die Politiker stehen so unter der Kuratel des Finanzkapitals, diesem ganzen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck, daß ich ihnen nicht mehr vertraue. Natürlich möchte ich, daß die Leute zu den Wahlurnen gehen, aber sie müssen auch etwas fordern und sich nicht wie Schäfchen von allen möglichen politischen Richtungen einsacken lassen.
SB: Könntest du noch ein paar Worte zu euren bisherigen Filmen sagen?
LF: Herdolor Lorenz und ich arbeiten seit über 30 Jahren im Dokumentarbereich. In den letzten zehn Jahren haben wir uns mit Fragen der Daseinsvorsorge beschäftigt. Darunter fällt Gesundheit, Bildung, Mobilität und so weiter, also die grundsätzlichen Bereiche, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Ein wichtiger Punkt ist dabei Wasser. Mit der Problematik dieses Lebenselexiers haben wir uns lange und intensiv auseinandergesetzt. Wasser ist auch ein politisches Druckmittel. Den ersten Film zu diesem Thema - "Das blaue Gold im Garten Eden" - habe ich 2003 gemacht. Dabei ging es um die Wasserfrage im Länderdreieck Türkei-Syrien-Irak, die jetzt zu einem Riesenproblem explodiert ist, denn Euphrat und Tigris entspringen in der Türkei. Türkische Politiker haben immer gesagt: Wir sitzen an den Wasserhähnen und bestimmen, was in der Region passiert.
SB: Inwieweit könnte in Anbetracht deiner Recherchen die Wasserknappheit eine Rolle gespielt haben beim Ausbruch der Feindseligkeiten in Syrien?
LF: Kriege in dieser Region gehen in der Regel um Öl und Macht, aber in diesem konkreten Fall geht es ganz klar auch um Wasser. In dieser Auseinandersetzung hat die Türkei immer wieder Druck auf Syrien ausgeübt. Als die PKK noch Lager in Nordsyrien hatte und Öcalan von dort aus den kurdischen Widerstand in der Türkei organisierte, hat die türkische Regierung explizit damit gedroht, den Zufluß von Wasser zu drosseln, sollte Syrien die PKK-Lager nicht schließen. Mit ihrem Staudammsystem hätte die Türkei jederzeit die Möglichkeit dazu gehabt. Ohne Wasser wäre Syrien wie eine Pflanze unter sengender Sonne verdorrt. Daraufhin sind die Lager in Syrien aufgelöst worden. Diesen Druck übt die Türkei nach wie vor aus. Die Wasserfrage ist ein starkes politisches Mittel.
SB: Wie ging es weiter in der Chronologie eurer Filme?
LF: Als wir dort in der Wüste waren und kein Wasser hatten, wurde mir die ganze Dimension des Problems schlagartig bewußt. Wir sind es gewohnt, den Wasserhahn aufzudrehen und jederzeit fließendes Wasser zu einem sozial verträglichen Preis zu haben. In den meisten Regionen Deutschlands ist es sogar trinkbar, dies gilt besonders für Hamburg - bis jetzt jedenfalls. Aber in Syrien ist es ganz anders. Dort gibt es mitunter stundenlang kein Wasser und trinkbar ist es ohnehin nicht. Überall, wo Wasser privatisiert ist wie in England oder früher in Uruguay und Argentinien, hat sich der Preis so verteuert, daß die Leute sich das tägliche Wasser zum Trinken nicht mehr leisten konnten.
Das hat uns zu der Frage geführt: Was sind das für Konzerne, die unser Lebenselexier privatisieren? Nur wer bezahlt, darf Wasser trinken, wer es sich nicht leisten kann, muß verdursten. Unser erster gemeinsamer Film hieß "Wasser unterm Hammer". In ihm haben wir die Teilprivatisierung der Wasserversorgung in Berlin mit Veolia und RWE in Kiel vor dem Hintergrund der englische Erfahrungen beschrieben. Margaret Thatcher hatte in ihrer Amtszeit die Wasserversorgung komplett in private Hände gelegt. In England gibt es mittlerweile zehn Wasserversorger. Damals hatte RWE Thames Water übernommen, doch 2005 wieder aus imageschädigenden Gründen abgestoßen.
SB: Was hat euch dann veranlaßt, den Film "Water Makes Money" zu drehen?
LF: In "Wasser unterm Hammer" hatten wir die Privatisierung zum Thema gemacht, aber in Frankreich sprechen die beiden französischen Konzerne Suez und Veolia nicht etwa von Privatisierung, sondern von Public Private Partnership. Von daher nimmt "Water Makes Money" die beiden weltgrößten privaten Wasserversorger vor allem hinsichtlich der drastischen Veränderungen in ihrem Heimatland Frankreich, wo die Wasserversorgung zu 75, 80 Prozent privatisiert war, unter die Lupe. Interessant daran ist, daß Public Private Partnership natürlich die beste Form ist, sozusagen in privater Betreiberschaft viel Geld aus der Wasserversorgung herauszuziehen, zumal die Öffentlichkeit die Kosten trägt. Public Private Partnership hat insbesondere in Frankreich viel damit zu tun, daß die Konzerne mit den Politikern enge Beziehungen aufgebaut haben, die dementsprechend Korruption begünstigen. Die Konzerne gaben den Politikern vor, welche Gesetze sie beschließen sollten, damit dies mit ihren Bauvorhaben d'accord gehen konnte. Durch Bestechung von Politikern wurde die Wasserversorgung in den französischen Städten reihum privatisiert. In der Folge mußten die Gemeinden viel zu viel für Wasser zahlen, und auch die Wasserqualität verschlechterte sich durch den Einsatz von Chlor. Zudem wurden die Rohre nicht repariert, wodurch ein hoher Wasserverlust entstand.
SB: 2015 wurde dann euer bislang letzter Film vorgestellt.
LF: Das war "Wer rettet wen? Die Krise als Geschäftsmodell". Dieser Film beleuchtet die Ursachen der Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Zukunft. "Der marktgerechte Mensch" ist quasi eine Fortführung dieses Films.
SB: Für "Der marktgerechte Mensch" habt ihr eine Crowdfunding-Aktion in Gang gesetzt. Gibt es keine öffentlichen Fördermittel, die ihr in Anspruch nehmen könntet?
LF: Nach "Wasser unterm Hammer", "Water Makes Money" und "Wer rettet wen?" ist "Der marktgerechte Mensch" unser vierter Film, den wir mit Crowdfunding finanzieren, nur daß wir dazu Subskription sagen. Der Unterschied ist uns wichtig, weil wir nicht über fremde Plattformen gehen, sondern unser Projekt auf unserer eigenen Webseite vorstellen. Jeder, der 20 Euro und mehr spendet, bekommt nach Fertigstellung des Films eine DVD zugeschickt und kann damit nichtkommerzielle Vorführungen machen.
Bereits nach dem ersten Projekt haben wir gelernt, daß es nicht nur auf die finanzielle Unterstützung ankommt. Viel wichtiger ist, daß alle, die sich an der Fertigstellung des Films beteiligen, Verantwortung dafür übernehmen, den Film nicht nur selbst zu sehen, sondern ihn auch anderen zu zeigen. Auf diese Weise wird die Thematik in die Breite der Gesellschaft getragen. Das Kino ist natürlich ein starker Impulsgeber, aber dadurch, daß der Film auch in Kneipen, Wohn- und Stadtteilgruppen als auch in Schulen und Universitäten, meistens in Verbindung mit Diskussionen, gezeigt wird, bilden sich häufig auch Bürgerinitiativen, weil die Leute eine Idee davon bekommen, was auf dem Spiel steht. Das ist der eigentliche Wert von Subskription.
SB: Hat es in den Leitmedien Rezensionen über eure Filme gegeben oder hat man euch eher ignoriert?
LF: Eher letzteres. "Bahn unterm Hammer" hatten wir dem Fernsehen angeboten, aber sie wollten nichts davon wissen und haben gesagt: Was interessiert es den Bürger, daß die Bahn an die Börse geht. Aber in dem Moment, als der Film überall in den Kinos lief und Leute Kampagnen gemacht haben, wurde das Thema über Monitor und Tagesthemen plötzlich in die Medien gehoben. Was unsere Filme über die Wasserproblematik anbelangt, hat außer der taz, dem Hamburger Abendblatt und der Süddeutschen Zeitung niemand darüber berichtet. Erst als Veolia gegen "Water Makes Money" einen Prozeß führte, entstand mehr mediale Aufmerksamkeit, aber ansonsten wurde das Thema Privatisierung und Rekommunalisierung von Wasser häufig schlicht vermieden. Das betraf nicht nur unseren Film, sondern eine ganze Reihe von Referenden wie zum Beispiel in Berlin, wo die Offenlegung der Verträge gefordert wurde. Obwohl unsere Filme sehr erfolgreich waren, haben sich die Medien meist nicht eingeklinkt, was aber auch klar ist, denn wir machen die Filme ja kontramedial.
SB: Und wie war die Resonanz seitens der gesellschaftlichen Öffentlichkeit?
LF: Allein in Deutschland gab es 730 Veranstaltungen seit der Premiere von "Wer rettet wen?" im letzten Jahr. Trotzdem treffe ich auf Veranstaltungen immer wieder Leute, die von uns oder dem Film noch nie etwas gehört haben. Zur Premiere des Films gab es einige sehr schöne Berichte in verschiedenen Programmen und Zeitungen, aber danach hat es trotz der zahlreichen Vorführungen des Films kaum noch Reaktionen gegeben. Wir erzählen eben in unserem Film Dinge, die in den Medien ganz anders dargestellt werden, das macht es so schwierig.
SB: Vor dem Hintergrund deiner langen Erfahrung im Bereich Dokumentarfilm einmal gefragt: Wie ist die heutige Situation von Dokumentarfilmern, die natürlich auf öffentlich-rechtliche Medien angewiesen sind?
LF: Es gab einmal eine Phase, wo es besser ging. Im Moment habe ich das Gefühl, daß es wieder richtig absackt und Medien und Fernsehen ziemlich gleichgeschaltet werden. Wenn man sich anschaut, wer in den Rundfunkräten sitzt, ist das nachlassende Interesse nicht verwunderlich. Daß "Die Anstalt" überhaupt noch existiert, finde ich grandios. Im Augenblick läuft eine Petition, das Kabarett nicht so spät auszustrahlen, sondern auf 20.15 Uhr vorzuverlegen. Die Petition sollte jeder unterschreiben, denn die Sendung ist eine Ausnahmeerscheinung.
Ich möchte gar nicht bestreiten, daß auch gute Filme gemacht werden, aber sie werden immer mehr in die Spätprogramme gedrückt. Unser Film "Wer rettet wen?" macht ja einen Bogen von den Ursachen bis zu den Auswirkungen in der Zukunft. Was sonst zu diesem Thema gezeigt wurde, betraf eher die Symptome der Krise. Aber niemand spricht darüber, wie Konzerne und Institutionen überhaupt eine solche Machtkonzentration erreicht haben. Das ist auch meine Kritik an die Adresse des Fernsehen. Man versucht, die Hintergründe einfach wegzulassen oder Filme, die dies nicht tun, in wenig frequentierte Tageszeiten oder Spartenprogramme auszulagern.
SB: Kannst du dir vorstellen, daß alternative Formen des Filmemachens, aber auch der Aufführung von Filmen, wie es sie in den 60er und 70er Jahren in Ansätzen gab, vielleicht noch einmal zu einer Art Gegenbewegung führen?
LF: Ja unbedingt. So haben beispielsweise die Crowdfunding-Bewegungen über ihre Plattformen im Internet einen wahnsinnigen Schub gekriegt, daß Leute anfangen, unabhängig vom Fernsehen oder der Filmförderung Filme mit hohem Aufklärungsanspruch zu machen. Ich denke schon, daß es möglich ist. Ich möchte jedoch noch anfügen, daß uns Arte bei "Water Makes Money" total unterstützt und den Film extra am Abend vor dem Prozeß noch einmal gezeigt hat. Am Prozeßtag selbst gab es noch ein Interview. Aber bei "Wer rettet wen?" wollten sie nicht mitgehen, und "Der marktgerechte Mensch" hängt noch in der Schwebe.
Zu diesem neuen Projekt haben wir am 1. September einen Spendenaufruf [3] gemacht, und das Echo ist wirklich toll. Daß so viele Leute gespendet und auch geschrieben haben: Es ist phantastisch, daß ihr euch diesem superwichtigen Thema zuwendet, über das keiner sprechen will - hat uns in unserer Arbeit unheimlich bestärkt.
SB: Leslie, vielen Dank für das Gespräch.
INTERVIEW/323: Mikroinitiative Gewerkschaftsbasen - Kino von unten ... Leslie Franke im Gespräch (SB)
Filmkultur sozial bewegt
Interview in Hamburg-Rotherbaum am 7. September 2016
Leslie Franke ist Dokumentarfilmerin und lebt in Hamburg. Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Herdolor Lorenz [1] hat sie mehrere Filme gedreht, die sich kritisch mit der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus, den sozialen Folgen der neoliberalen Marktwirtschaft und sozialökologischen Problemen, die bei der Privatisierung der lebenswichtigen Ressource Wasser entstehen, auseinandersetzen. Am Rande einer Veranstaltung der Gewerkschaftslinken Hamburg, bei der eine Delegation von Eisenbahngewerkschaftern aus Japan über ihre Arbeitskämpfe vor dem Hintergrund der Atomkatastrophe von Fukushima berichtete [2], beantwortete Leslie Franke dem Schattenblick einige Fragen zu ihren bisherigen Produktionen und der besonderen Art und Weise, wie die beiden Filmemacher ihr Medium dazu nutzen, das Publikum aktiv am Zustandekommen und der Verbreitung politisch wichtiger Aufklärung zu beteiligen und so in Bewegung zu bringen.
Schattenblick (SB): Euer neues in Arbeit befindliche Filmprojekt heißt "Der marktgerechte Mensch". Worum geht es dabei?
Leslie Franke (LF): Das Filmprojekt beschäftigt sich mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Angefangen hat diese Entwicklung hauptsächlich mit der Schröder-Regierung und der Einführung von Leiharbeit, Werkverträgen, unbefristeter Arbeit usw. Im gleichen Zuge wurden alle Arbeitsschutzrichtlinien und -standards weitgehend zusammengestrichen. Unser Thema ist im Prinzip: Welche Ursachen hat diese Entwicklung, wie war sie durchzusetzen, was macht sie mit den Menschen und der Gesellschaft?
SB: Welches Konzept steckt hinter eurem Film, basiert es vor allem auf Interviews oder geht es mehr um die Chronologie der staatlichen Maßnahmen?
LF: Wir haben verschiedene Bereiche im Blick, aber den Drehplan machen wir erst jetzt. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit der Gesundheitsreform und dem Pflegenotstand. So tritt im Film zum Beispiel ein Trucker auf, um die Frage zu beleuchten, was die Öffnung der Grenzen und der Abbau der arbeitsrechtlichen Standards, die in Brüssel verfügt wurden, für die Fernfahrer und ihre Arbeit bedeutet. Zu den verschiedenen Arbeitsfeldern, die wir untersuchen wollen, gehören unter anderem die Leih- und Werk-, aber auch die Internetarbeit, wo zumeist jungen Leuten versprochen wird, sie seien frei in ihrer Arbeitseinteilung.
Letztendlich ist es jedoch eine Form von Sklavenarbeit, weil man nur auf Abruf angestellt wird und den Arbeitsvertrag, sofern man überhaupt einen bekommt, mit dem jeweiligen Arbeitgeber individuell abstimmen muß. Dabei herauszuarbeiten, daß die Arbeitsmarktderegulierung den Menschen total in die Vereinzelung treibt, ist uns ganz besonders wichtig, weil so jede Form von Solidarität unmöglich gemacht wird und jeder gezwungen ist, nur noch für sich allein zu kämpfen. So hat die französische Regierung ein Arbeitsgesetz durchgebracht, dessen zentraler Punkt darin besteht, daß jeder einzelne mit seinem Arbeitgeber die Bedingungen seiner Arbeit aushandelt. Das wirft uns, ich würde sagen, in frühindustrielle Verhältnisse und damit um Jahrhunderte zurück und hebt all das, was seitdem erkämpft worden ist, mit einem Federstrich wieder auf.
Wir wollen damit keineswegs sagen, daß früher alles besser war. Die Arbeitsbedingungen haben sich verändert, und natürlich muß man darüber nachdenken, wie man mit dieser Veränderung umgehen kann. Aber einen Arbeitsschutz muß es weiterhin geben, sowohl auf dem Arbeitsplatz als auch hinsichtlich der Verträge und der sozialen Absicherung durch die Rente. Denn eine Arbeit auf Honorarbasis provoziert eine unheimliche Arbeitsarmut. Es ist schon jetzt abzusehen, worauf das Ganze hinausläuft. An der Art und Weise, wie im Zuge der Finanzkrise praktisch alle sozialen Standards ausgehebelt wurden und den südlichen Staaten eine Austeritätspolitik aufgezwungen worden ist, kann man leicht erkennen, was passiert, wenn diese Bestimmungen aus den Angeln gehoben werden. Nachdem dieses neoliberale Modell in der Hauptsache bei uns in Deutschland unter Gerhard Schröder eingeführt wurde, wird jetzt versucht, es für ganz Europa festzuschreiben.
SB: Ihr greift im Grunde ein klassisches Thema der Linken auf, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit in seiner grundlegenden Widersprüchlichkeit allerdings nur noch randläufig behandelt. Welche persönliche Motivation hattest du, dich diesem nicht unbedingt wohlgelittenen Thema zuzuwenden?
LF: Dennoch ist es total populär, weil es uns allen auf den Fingern brennt. Amazon ist natürlich exemplarisch für diese Entwicklung, aber es gibt um uns herum verschiedene andere Beispiele, wo die Leute um Sicherheit ringen, aber nur Verträge für drei oder sechs Monate, vielleicht mal für ein Jahr kriegen und nicht wissen, wie es mit ihnen hinterher weitergeht. Auch im Schulwesen gibt es mehr und mehr befristete Lehrer, die in den Sommerferien freigestellt werden und nicht wissen, ob sie im September wieder angestellt werden, und das, obwohl sie dringend gebraucht werden. Darauf den Blick zu richten, was es mit den Menschen macht, wenn sie nicht wissen, wovon sie morgen oder übermorgen leben sollen, ist meine persönliche Motivation, denn daß der Mensch sich ernähren können muß, ist etwas Grundlegendes.
So wie ich es sehe, gebiert dieser haltlose Zustand den ganzen Auswuchs an Angst in der Gesellschaft vor den Fremden. Jahrzehntelang konnte man in der Bundesrepublik ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit in Anspruch nehmen, doch dies fällt seit einiger Zeit in sich zusammen. Die Leute merken es nun und bekommen Angst, daß ihnen das, was von diesen Sicherheiten geblieben ist, auch noch weggenommen wird. Diese Angst in der Gesellschaft, die die rechten Kräfte stärkt und aufbläht, berührt und beschäftigt mich, weil man sie nicht mehr in den Griff zu bekommen scheint.
SB: Der Verwechslung, daß der Fremde der Feind sei, entgegenzutreten und gleichzeitig die wirklichen Machtverhältnisse zu hinterfragen, ist das der Antrieb deiner Arbeit?
LF: Ja, daß die Angst in eine falsche Richtung fokussiert wird. Mit unseren politischen Aufklärungsfilmen wollen wir den Menschen zeigen: Hey, das ist nicht dein individuelles Problem, und auch der Nachbar oder der Flüchtling sind nicht schuld daran, sondern es ist ein systemisches Problem und hat etwas mit der Entwicklung der Gesellschaft zu tun. Aber du als Bürgerin oder Bürger hast die Möglichkeit, dich dagegen zu wehren. Meines Erachtens kann nur die Zivilgesellschaft echten Widerstand aufbauen, denn die Politiker stehen so unter der Kuratel des Finanzkapitals, diesem ganzen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck, daß ich ihnen nicht mehr vertraue. Natürlich möchte ich, daß die Leute zu den Wahlurnen gehen, aber sie müssen auch etwas fordern und sich nicht wie Schäfchen von allen möglichen politischen Richtungen einsacken lassen.
SB: Könntest du noch ein paar Worte zu euren bisherigen Filmen sagen?
LF: Herdolor Lorenz und ich arbeiten seit über 30 Jahren im Dokumentarbereich. In den letzten zehn Jahren haben wir uns mit Fragen der Daseinsvorsorge beschäftigt. Darunter fällt Gesundheit, Bildung, Mobilität und so weiter, also die grundsätzlichen Bereiche, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Ein wichtiger Punkt ist dabei Wasser. Mit der Problematik dieses Lebenselexiers haben wir uns lange und intensiv auseinandergesetzt. Wasser ist auch ein politisches Druckmittel. Den ersten Film zu diesem Thema - "Das blaue Gold im Garten Eden" - habe ich 2003 gemacht. Dabei ging es um die Wasserfrage im Länderdreieck Türkei-Syrien-Irak, die jetzt zu einem Riesenproblem explodiert ist, denn Euphrat und Tigris entspringen in der Türkei. Türkische Politiker haben immer gesagt: Wir sitzen an den Wasserhähnen und bestimmen, was in der Region passiert.
SB: Inwieweit könnte in Anbetracht deiner Recherchen die Wasserknappheit eine Rolle gespielt haben beim Ausbruch der Feindseligkeiten in Syrien?
LF: Kriege in dieser Region gehen in der Regel um Öl und Macht, aber in diesem konkreten Fall geht es ganz klar auch um Wasser. In dieser Auseinandersetzung hat die Türkei immer wieder Druck auf Syrien ausgeübt. Als die PKK noch Lager in Nordsyrien hatte und Öcalan von dort aus den kurdischen Widerstand in der Türkei organisierte, hat die türkische Regierung explizit damit gedroht, den Zufluß von Wasser zu drosseln, sollte Syrien die PKK-Lager nicht schließen. Mit ihrem Staudammsystem hätte die Türkei jederzeit die Möglichkeit dazu gehabt. Ohne Wasser wäre Syrien wie eine Pflanze unter sengender Sonne verdorrt. Daraufhin sind die Lager in Syrien aufgelöst worden. Diesen Druck übt die Türkei nach wie vor aus. Die Wasserfrage ist ein starkes politisches Mittel.
SB: Wie ging es weiter in der Chronologie eurer Filme?
LF: Als wir dort in der Wüste waren und kein Wasser hatten, wurde mir die ganze Dimension des Problems schlagartig bewußt. Wir sind es gewohnt, den Wasserhahn aufzudrehen und jederzeit fließendes Wasser zu einem sozial verträglichen Preis zu haben. In den meisten Regionen Deutschlands ist es sogar trinkbar, dies gilt besonders für Hamburg - bis jetzt jedenfalls. Aber in Syrien ist es ganz anders. Dort gibt es mitunter stundenlang kein Wasser und trinkbar ist es ohnehin nicht. Überall, wo Wasser privatisiert ist wie in England oder früher in Uruguay und Argentinien, hat sich der Preis so verteuert, daß die Leute sich das tägliche Wasser zum Trinken nicht mehr leisten konnten.
Das hat uns zu der Frage geführt: Was sind das für Konzerne, die unser Lebenselexier privatisieren? Nur wer bezahlt, darf Wasser trinken, wer es sich nicht leisten kann, muß verdursten. Unser erster gemeinsamer Film hieß "Wasser unterm Hammer". In ihm haben wir die Teilprivatisierung der Wasserversorgung in Berlin mit Veolia und RWE in Kiel vor dem Hintergrund der englische Erfahrungen beschrieben. Margaret Thatcher hatte in ihrer Amtszeit die Wasserversorgung komplett in private Hände gelegt. In England gibt es mittlerweile zehn Wasserversorger. Damals hatte RWE Thames Water übernommen, doch 2005 wieder aus imageschädigenden Gründen abgestoßen.
SB: Was hat euch dann veranlaßt, den Film "Water Makes Money" zu drehen?
LF: In "Wasser unterm Hammer" hatten wir die Privatisierung zum Thema gemacht, aber in Frankreich sprechen die beiden französischen Konzerne Suez und Veolia nicht etwa von Privatisierung, sondern von Public Private Partnership. Von daher nimmt "Water Makes Money" die beiden weltgrößten privaten Wasserversorger vor allem hinsichtlich der drastischen Veränderungen in ihrem Heimatland Frankreich, wo die Wasserversorgung zu 75, 80 Prozent privatisiert war, unter die Lupe. Interessant daran ist, daß Public Private Partnership natürlich die beste Form ist, sozusagen in privater Betreiberschaft viel Geld aus der Wasserversorgung herauszuziehen, zumal die Öffentlichkeit die Kosten trägt. Public Private Partnership hat insbesondere in Frankreich viel damit zu tun, daß die Konzerne mit den Politikern enge Beziehungen aufgebaut haben, die dementsprechend Korruption begünstigen. Die Konzerne gaben den Politikern vor, welche Gesetze sie beschließen sollten, damit dies mit ihren Bauvorhaben d'accord gehen konnte. Durch Bestechung von Politikern wurde die Wasserversorgung in den französischen Städten reihum privatisiert. In der Folge mußten die Gemeinden viel zu viel für Wasser zahlen, und auch die Wasserqualität verschlechterte sich durch den Einsatz von Chlor. Zudem wurden die Rohre nicht repariert, wodurch ein hoher Wasserverlust entstand.
SB: 2015 wurde dann euer bislang letzter Film vorgestellt.
LF: Das war "Wer rettet wen? Die Krise als Geschäftsmodell". Dieser Film beleuchtet die Ursachen der Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Zukunft. "Der marktgerechte Mensch" ist quasi eine Fortführung dieses Films.
SB: Für "Der marktgerechte Mensch" habt ihr eine Crowdfunding-Aktion in Gang gesetzt. Gibt es keine öffentlichen Fördermittel, die ihr in Anspruch nehmen könntet?
LF: Nach "Wasser unterm Hammer", "Water Makes Money" und "Wer rettet wen?" ist "Der marktgerechte Mensch" unser vierter Film, den wir mit Crowdfunding finanzieren, nur daß wir dazu Subskription sagen. Der Unterschied ist uns wichtig, weil wir nicht über fremde Plattformen gehen, sondern unser Projekt auf unserer eigenen Webseite vorstellen. Jeder, der 20 Euro und mehr spendet, bekommt nach Fertigstellung des Films eine DVD zugeschickt und kann damit nichtkommerzielle Vorführungen machen.
Bereits nach dem ersten Projekt haben wir gelernt, daß es nicht nur auf die finanzielle Unterstützung ankommt. Viel wichtiger ist, daß alle, die sich an der Fertigstellung des Films beteiligen, Verantwortung dafür übernehmen, den Film nicht nur selbst zu sehen, sondern ihn auch anderen zu zeigen. Auf diese Weise wird die Thematik in die Breite der Gesellschaft getragen. Das Kino ist natürlich ein starker Impulsgeber, aber dadurch, daß der Film auch in Kneipen, Wohn- und Stadtteilgruppen als auch in Schulen und Universitäten, meistens in Verbindung mit Diskussionen, gezeigt wird, bilden sich häufig auch Bürgerinitiativen, weil die Leute eine Idee davon bekommen, was auf dem Spiel steht. Das ist der eigentliche Wert von Subskription.
SB: Hat es in den Leitmedien Rezensionen über eure Filme gegeben oder hat man euch eher ignoriert?
LF: Eher letzteres. "Bahn unterm Hammer" hatten wir dem Fernsehen angeboten, aber sie wollten nichts davon wissen und haben gesagt: Was interessiert es den Bürger, daß die Bahn an die Börse geht. Aber in dem Moment, als der Film überall in den Kinos lief und Leute Kampagnen gemacht haben, wurde das Thema über Monitor und Tagesthemen plötzlich in die Medien gehoben. Was unsere Filme über die Wasserproblematik anbelangt, hat außer der taz, dem Hamburger Abendblatt und der Süddeutschen Zeitung niemand darüber berichtet. Erst als Veolia gegen "Water Makes Money" einen Prozeß führte, entstand mehr mediale Aufmerksamkeit, aber ansonsten wurde das Thema Privatisierung und Rekommunalisierung von Wasser häufig schlicht vermieden. Das betraf nicht nur unseren Film, sondern eine ganze Reihe von Referenden wie zum Beispiel in Berlin, wo die Offenlegung der Verträge gefordert wurde. Obwohl unsere Filme sehr erfolgreich waren, haben sich die Medien meist nicht eingeklinkt, was aber auch klar ist, denn wir machen die Filme ja kontramedial.
SB: Und wie war die Resonanz seitens der gesellschaftlichen Öffentlichkeit?
LF: Allein in Deutschland gab es 730 Veranstaltungen seit der Premiere von "Wer rettet wen?" im letzten Jahr. Trotzdem treffe ich auf Veranstaltungen immer wieder Leute, die von uns oder dem Film noch nie etwas gehört haben. Zur Premiere des Films gab es einige sehr schöne Berichte in verschiedenen Programmen und Zeitungen, aber danach hat es trotz der zahlreichen Vorführungen des Films kaum noch Reaktionen gegeben. Wir erzählen eben in unserem Film Dinge, die in den Medien ganz anders dargestellt werden, das macht es so schwierig.
SB: Vor dem Hintergrund deiner langen Erfahrung im Bereich Dokumentarfilm einmal gefragt: Wie ist die heutige Situation von Dokumentarfilmern, die natürlich auf öffentlich-rechtliche Medien angewiesen sind?
LF: Es gab einmal eine Phase, wo es besser ging. Im Moment habe ich das Gefühl, daß es wieder richtig absackt und Medien und Fernsehen ziemlich gleichgeschaltet werden. Wenn man sich anschaut, wer in den Rundfunkräten sitzt, ist das nachlassende Interesse nicht verwunderlich. Daß "Die Anstalt" überhaupt noch existiert, finde ich grandios. Im Augenblick läuft eine Petition, das Kabarett nicht so spät auszustrahlen, sondern auf 20.15 Uhr vorzuverlegen. Die Petition sollte jeder unterschreiben, denn die Sendung ist eine Ausnahmeerscheinung.
Ich möchte gar nicht bestreiten, daß auch gute Filme gemacht werden, aber sie werden immer mehr in die Spätprogramme gedrückt. Unser Film "Wer rettet wen?" macht ja einen Bogen von den Ursachen bis zu den Auswirkungen in der Zukunft. Was sonst zu diesem Thema gezeigt wurde, betraf eher die Symptome der Krise. Aber niemand spricht darüber, wie Konzerne und Institutionen überhaupt eine solche Machtkonzentration erreicht haben. Das ist auch meine Kritik an die Adresse des Fernsehen. Man versucht, die Hintergründe einfach wegzulassen oder Filme, die dies nicht tun, in wenig frequentierte Tageszeiten oder Spartenprogramme auszulagern.
SB: Kannst du dir vorstellen, daß alternative Formen des Filmemachens, aber auch der Aufführung von Filmen, wie es sie in den 60er und 70er Jahren in Ansätzen gab, vielleicht noch einmal zu einer Art Gegenbewegung führen?
LF: Ja unbedingt. So haben beispielsweise die Crowdfunding-Bewegungen über ihre Plattformen im Internet einen wahnsinnigen Schub gekriegt, daß Leute anfangen, unabhängig vom Fernsehen oder der Filmförderung Filme mit hohem Aufklärungsanspruch zu machen. Ich denke schon, daß es möglich ist. Ich möchte jedoch noch anfügen, daß uns Arte bei "Water Makes Money" total unterstützt und den Film extra am Abend vor dem Prozeß noch einmal gezeigt hat. Am Prozeßtag selbst gab es noch ein Interview. Aber bei "Wer rettet wen?" wollten sie nicht mitgehen, und "Der marktgerechte Mensch" hängt noch in der Schwebe.
Zu diesem neuen Projekt haben wir am 1. September einen Spendenaufruf [3] gemacht, und das Echo ist wirklich toll. Daß so viele Leute gespendet und auch geschrieben haben: Es ist phantastisch, daß ihr euch diesem superwichtigen Thema zuwendet, über das keiner sprechen will - hat uns in unserer Arbeit unheimlich bestärkt.
SB: Leslie, vielen Dank für das Gespräch.
Der marktgerechte Mensch“ Ein Interview mit Leslie Franke
Gesellschaftliches Engagement ist schon seit der Gründung von KernFilmproduktion das zentrale Anliegen der Plattform für dokumentarisch arbeitende Filmschaffende. Leslie Franke und Herdolor Lorenz gründeten Kernfilm 1985. Inzwischen hat Kernfilm viele eigene dokumentarische Werke realisiert, aber auch die Arbeiten anderer Filmemacher produziert. Eine Besonderheit ist die von Kernfilm praktizierte Finanzierung durch Subskription für „Filme von unten“, was bedeutet, dass die, die das aktuelle Thema wichtig finden, sich auch an der Entstehung des Filmes – meist finanziell – beteiligen.
Ein Klick ins Kernfilm-Archiv bietet einen Überblick über mehr als dreißig Jahre gesellschaftliches Engagement im Bereich Dokumentarfilm. Neben vielen anderen wichtigen Themen widmete sich das Team besonders der Privatisierung der Wasserressourcen durch Staaten oder Konzerne. „Blaues Gold im Garten Eden“, „Wasser unterm Hammer“ und „Water makes money“ sind Titel aus diesem Bereich. Die Filme haben an Aktualität nichts eingebüßt, denn die fatale Privatisierung in Gestalt von ÖPP (Öffentlich Privaten Partnerschaften) schreitet in allen Bereichen der Daseinsvorsorge unaufhaltsam voran.
2015 beschäftigte sich die Kernfilm in dem Film „Wer rettet wen?“, mit der so genannten Finanzkrise. Die als Rettung maskierte Umwandlung privater Schulden in öffentliche, das Abschmelzen aller sozialen Errungenschaften und Arbeitsrechte, eine Gesellschaft, in der die Demokratie ad absurdum geführt wird – all diese im Film angesprochenen Themen gehören nach Friedas Ansicht eigentlich in die beste Sendezeit der Öffentlich Rechtlichen Medien. Aber in diesem Fall geht der Dokumentarfilm offensichtlich über die TV übliche Symptombeschreibung hinaus. „Wer rettet wen“ benennt mit seriöser Recherche und professioneller Umsetzung ungeschminkt Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklung für unsere Gesellschaft. Und diese Form der Bewusstmachung will man offensichtlich den Zuschauern nicht zumuten.
Alle Filme können bei Kernfilm als DVD oder Bluray bestellt werden. Ein aktuelles Projekt trägt den Titel „Der Marktgerechte Mensch“. Der Film soll zeigen, wie Solidarität verloren geht und wir alle Gefahr laufen, in Konkurrenz zueinander zu versinken, während Reiche immer reicher werden.
Frieda sprach mit Leslie Franke über frühere und neue Projekte
Frieda: Leslie, jahrezehntelanges Engagement für uns alle. Da lässt sich im Vorfeld, und das sicherlich im Namen von vielen, einfach nur mal „Danke!“ sagen. Welche eurer Filme schafften es eigentlich überhaupt in das Öffentlich Rechtliche Fernsehen, das uns ja mittels GEZ-Zwangsgebühr dazu nötigt, Presseunfreiheit zu unterstützen?
Leslie: Die ersten Jahre haben wir hauptsächlich für NDR, WDR und Arte gearbeitet, viel im Ausland, hauptsächlich UdSSR, später in den Nachsowjetischen Staaten und dem Nahen Osten. Aber als wir begannen, uns Themen „vor der eigenen Haustür“ vorzunehmen, bekamen wir mit der Art unserer Herangehensweise schon Schwierigkeiten wie zur Privatisierung der Kommunalen Wasserversorgung in Deutschland. Als die Bahn 2007 an die Börse gebracht werden sollte, meinten die Sender, dieses Thema interessiere die Zuschauer nicht. Daraufhin begannen wir zum ersten Mal, den Film über Subskription zu finanzieren. Als er dann überall in den Kinos gezeigt und zu vehementen öffentlichen Diskussionen führte, wurde das Thema plötzlich auch für die Sender relevant.
Frieda: Eure Filme gehen ja schließlich uns alle an. Eigentlich müssten die Medien ja jubeln, wenn sich ein Filmteam mit all diesen gesellschaftsrelevanten Fragen auseinandersetzt. Welche Erfahrungen habt Ihr generell mit der Presse gemacht?
Leslie: Als es um Wasser und Bahn ging, hat die Presse es vorgezogen, erst einmal zu schweigen. Aber das betraf weniger uns als Filmemacher als das Thema an sich. Hier sollte etwas totgeschwiegen werden, was uns aber existentiell angeht. Der Effekt war: Die Filme wurden als Aufklärungsinstrument eingesetzt als es z.B. um die Privatisierung des Wassers in Italien ging, zur ersten Europäischen Bürgerinitiative gegen eine neue Brüssler Konzessionsrichtlinie zur Erleichterung der Privatisierung, zum Referendum in Berlin gegen die teilprivatisierten Wasserbetriebe, es wurden Unterschriften im Anschluss an die Filmvorführung gesammelt, es gründeten sich Bürgerinitiativen in vielen Städten usw.
Frieda: Die so genannte Bankenrettung erschüttert, wie Ihr schreibt, Gesellschaften, die sich als Sozialer Rechtsstaat begreifen, in den Grundfesten. Mario Draghi, EZB-Präsident und ehemaliger Goldman-Sachs-Vizepräsident, gab selbst zu: „Das europäische Sozialmodell ist Vergangenheit. Die Rettung des Euro wird viel Geld kosten. Das bedeutet, vom europäischen Sozialmodell Abschied zu nehmen.“ Seit sieben Jahren werden mit vielen hundert Milliarden öffentlicher Gelder Banken gerettet. „Wer rettet wen?“ zeigt auf, was bei dieser „Rettung“ verborgen geblieben ist und wie die Superreichen davon profitieren – auf Kosten von 99 Prozent der Menschheit. Wie habt Ihr den Film finanziert und was hat er bewirkt?
Leslie: „Wer rettet wen?“ ist schon der dritte Kinofilm, den wir zum größten Teil über Subskription finanzierten. Hunderte Menschen sind es dann, die das Thema mittels Film in allen Ecken der Republik verbreiten und diskutieren. Und das ist der eigentliche Effekt dieser Finanzierungsmethode: Alle, die die Produktion unterstützen, fühlen sich verantwortlich und werden zu MultiplikatorInnen. Seit der Premiere im Februar 2015 bekamen wir über 700 Veranstaltungen gemeldet, auch aus Universitäten und Schulen. Natürlich gibt es unzählige, von denen wir nichts wissen, denn den Film gibt es auch in fünf Sprachversionen. Auf den Film-Diskussionen, zu denen wir eingeladen wurden, hatten wir immer den Eindruck, dass die Zuschauer auf der einen Seite erleichtert waren, dass sie endlich verstanden haben, wie es zu den heutigen Entwicklungen kommen konnte. Aber andererseits waren sie natürlich empört darüber, dass die Mainstream-Medien ihnen so wichtige Informationen vorenthalten hatten. D.h. diese Form des Crowdfundings bei wichtigen gesellschaftlichen Themen könnte sich zu einer dritten Kraft in der Berichterstattung entwickeln.
Frieda: Im neuen Kernfilmprojekt „Der Marktgerechte Mensch“ geht es u.a. um die Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt. Ihr zeigt weniger die Symptome dafür auf, sondern in erster Linie deren Ursachen. Diese Herangehensweise zeichnet auch eure sonstigen Filmproduktionen aus. Symptom- statt Ursachenbekämpfung finden wir ja auch in anderen Bereichen, beispielsweise in der Medizin. Was die Ursachen angeht, scheinen diese aber generell eine Art gemeinsame Schnittmenge zu bilden. Unter dem Strich scheint es so zu sein, dass immer dieselben profitieren, beispielsweise Aktiengesellschaften. Die politischen Parteien sind für viele ja auch keine Option mehr, weil man den Eindruck gewinnt, dass es ab einer bestimmten Stufe in der Hierarchie sowieso egal ist, wer in der Regierung sitzt, weil der Einfluss der Lobbyisten einfach zu stark zu sein scheint. Was können deiner Meinung nach Menschen konkret tun?
Leslie: Wir müssen die Demokratie, die Solidarität stärken. Der Widerstand kann nur aus der Zivilgesellschaft kommen. Und das geht nur durch Aufklärung, nicht über Polarisierung. Und wir sollten uns Gedanken darüber machen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Es gibt z.B. schon verschiedenste Gemeinwohl-Projekte, die wir als wichtige Keimzellen wahrnehmen und unterstützen könnten, wenn sie sich für ein anderes Denken jenseits von Profitraten und menschlicher Ausbeutung gestalten. Auch wenn, wie du sagst, für viele die politischen Parteien keine Option sind, würde ich doch dafür plädieren, dass wir BürgerInnen gemeinsam die PolitikerInnen mit unseren Forderungen und Kritiken konfrontieren, Widerstand leisten wie bei TTIP z.B. oder der Privatisierung der Wasserversorgung oder des Gesundheitsbereiches etc. Menschen, denen das nicht möglich ist, können ihre Macht als Kunden ausspielen, indem sie ihre Bank gegen eine Gemeinwohlbank eintauschen oder keine Nestlé-Produkte mehr kaufen, weil dieser Konzern weltweit den Menschen das Trinkwasser stiehlt, indem er es profitabel in Flaschen abfüllt. JedeR kann in seinem Bereich, Umfeld aktiv werden!
Frieda: Worum geht es „Der Marktgerechte Mensch“ konkret?
Leslie: Noch vor 20 Jahren hatten in Deutschland knapp zwei Drittel der Beschäftigten einen Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht. 38% sind es nur noch heute. Aktuell befinden sich bereits knapp die Hälfte der Beschäftigten in Praktika, wiederholt befristeter Arbeit, in Werkverträgen und Leiharbeit! Altersarmut ist programmiert. Völlig ungesicherte Arbeit wie die der „Crowdworker“ (Internet-Arbeiter) und der Auftragsarbeit per App breiten sich schnell aus und unterlaufen den Mindestlohn. Manch gut Gebildete haben drei Jobs, um zu überleben. Diese Entwicklung ist menschengemacht! Zuerst wurden in den USA und England die neoliberalen Vorstellungen vom schlanken Staat und einem schrankenlosen, globalen Markt umgesetzt. In Deutschland wurde diese Politik von der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer übernommen. Mit einer Senkung der Unternehmenssteuern und der Deregulierung der Arbeit erreichte sie es, deutschen Konzernen nachhaltig enorme Kostenvorteile zu verschaffen. Gleichzeitig sanken die Realeinkommen zwischen 2000 und 2010 im Mittel um 4,2 Prozent. Die Beschäftigten an der unteren Einkommenshälfte mussten sogar Reallohnverluste zwischen 13,1 und 23,1 Prozent verkraften.
Die Senkung der Arbeitskosten als einseitige deutsche Maßnahme im taufrischen Euro-Währungsverbund hatte katastrophale Folgen. Sie hat der deutschen Exportindustrie entscheidende Wettbewerbsvorteile gebracht – für alle anderen Länder der Eurozone dagegen zunehmende Nachteile ihrer eigenen Industrien. Mit dem Argument, wieder wettbewerbsfähig zu werden, sind die anderen Länder seither unter enormen Druck geraten, es Deutschland gleich zu tun. Und in der Finanzkrise wurden Griechenland Spanien, Portugal und Italien sogar gezwungen, die Arbeitsrechte aufzuweichen. „Ich habe geliefert“, sagte Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi bei seinem Staatsbesuch in Berlin. Er hatte die Deregulierung des Arbeitsrechts geliefert. Griechenland, Portugal und Spanien hatten bereits geliefert. Doch die Arbeitslosigkeit ist dadurch nirgendwo gesunken. Aber fast alle Menschen in Europa haben an sozialer Sicherheit verloren und wurden in einen Konkurrenzkampf geschickt, der zunehmend alle Lebensbereiche umfasst.
Viele Menschen ahnen, dass da etwas schief läuft. Sie fühlen sich ausgeliefert, weil sie das Menschenwerk hinter der Deregulierung nicht verstehen. Doch diese Entwicklung ist mitnichten „alternativlos“. Die Demokratie hat nur eine Chance, wenn Bürger anfangen, ihre Interessen zu erkennen. „Der Marktgerechte Mensch“ wird ein Werkzeug dazu sein.
Frieda: Was braucht Ihr aktuell, um das Projekt weiter nach vorne zu bringen?
Leslie: Wir sind mit der Subskription schon sehr erfolgreich vorangekommen in den drei Monaten seit Beginn. Über 500 Menschen unterstützen uns schon, auch die Bundesfilmförderung ist im Boot. Aber um diese zu bekommen, müssen wir bis Juli 2017 über die Förderung „von unten“ 110.000 € erreichen. Wer sich genau über das Projekt informieren möchte, gehe bitte auf die Webseite: www.der-marktgerechte-mensch.org.
Frieda: Herzlichen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!
Ein Intverview von Ben Mendelson mit Herdolor Lorenz, Junge Welt 2.01.2017
Herdolor Lorenz ist Filmemacher und arbeitet mit Leslie Franke an Dokumentarfilmen mit gesellschaftlichem Engagement. Ihre letzten Filme „Wer Rettet Wen?“ (2015) und „Water Makes Money“ (2011) sorgten international für Aufsehen.
F: Ihr aktuelles Projekt „Der marktgerechte Mensch“ beleuchtet den zunehmenden Konkurrenzdruck in der Arbeitswelt. Worum geht es Ihnen dabei?
A: Wir wollen den Finger in die Wunden der Beschäftigten legen. Die Dreharbeiten fangen gerade in Deutschland an, etwa die Hälfte des Films wird hier spielen. Denn in der BRD wurde unter Schröder der Wettbewerb mit deregulierter Arbeit begonnen. Man sagt den Menschen hier, um uns herum gehe es drunter und drüber aber wir seien das goldene Land, hier sei alles gut. Das passt aber gar nicht zu dem Gefühl der meisten hier lebenden Menschen. Unsere Arbeit fokussiert sich vorerst auf zwei Sektoren: die Arbeit in privatisierten Krankenhäusern und die LKW-Branche in Europa.
In Hamburg St.-Georg, wo wir leben, macht die private Asklepius-Klinik immer höhere Profite. Gleichzeitig gibt es auf jedem Stockwerk immer weniger Pfleger. Alle Ärzte einer Abteilung haben z.B. einen Brandbrief an die Leitung unterschrieben in dem steht, dass dieser Zustand extrem gesundheitsgefährdend ist. Viele der Pfleger haben befristete oder Werkverträge. Wir waren eine Nacht dort und haben erlebt, dass oft einzelne Pfleger allein für 20 bis 30 Schwerstkranke verantwortlich sind. Das ist Wahnsinn und eine Verachtung gegenüber den Menschen. Die Patienten und Beschäftigten sind am Ende.
F: Wie sieht dieser Wahnsinn in der LKW-Branche aus?
A: Die meisten Fahrer können nur noch in Konkurrenz zueinander arbeiten, die deutschen zum Beispiel in Konkurrenz zu den rumänischen. Der EU-weit liberalisierte Arbeitsmarkt hat keine Grenzen nach unten. Die Trucker können zu praktisch allem gezwungen werden. Wenn sie dann mit überschrittener Lenkzeit erwischt werden, sind sie dran und nicht die Unternehmer. Hier findet ein ruinöser Wettbewerb statt. Die Fahrer sind heute die abgehängte Schicht der Beschäftigten und müssen Tag und Nacht durch die Gegend fahren.
F: Wo recherchieren Sie zu diesen Sektoren?
A: Wir waren schon in Spanien und Portugal und werden auf jeden Fall noch in Italien drehen. Das Land hat in den letzten sieben Jahren eine neoliberale Deregulierung vollzogen, die die Hälfte der Bevölkerung und vor allem die jungen Leute an den Abgrund führt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 42 Prozent. Wir werden dazu vielleicht auch in Frankreich recherchieren. Sicher ist, dass wir in die USA fliegen. Dort wurde uns die Entwicklung vorgemacht, da kann man sehen, wozu eine solche Deregulierung der Arbeit und Entrechtung der Beschäftigten führt.
Bei uns erleben wir gerade eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Es gibt nur noch wenige geschützte Arbeitsbereiche. In der BRD waren vor 20 Jahren noch 68 Prozent der Beschäftigten in einem Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht – heute sind es nur noch 39 Prozent. Und aktuell arbeiten 43,5 Prozent der Menschen hierzulande in permanenter sozialer und existenzieller Unsicherheit. Auch in St. Georg müssen viele gebildete Menschen drei, vier Jobs haben um über die Runde zu kommen.
F: Es geht in Ihrer Arbeit also weiter um den Kampf der Superreichen gegen alle anderen. Ist Ihr aktuelles Projekt quasi eine Fortsetzung des Films „Wer Rettet Wen?“, der die Bankenrettung thematisierte?
A: Definitiv. Die Bankenrettung war eine riesige Umverteilung von Unten nach Oben. Die Superreichen sind in der Krise noch reicher geworden. Und sie investieren auch heute noch bevorzugt in die Finanzindustrie. Dort erwarten sie weit höhere Gewinne als bei Investitionen in die Industrie, wo die Investitionsquote immer weiter sinkt. Es gibt kaum noch Wirtschaftswachstum. Die Schulden dagegen steigen radikal, private wie staatliche. 2000 nach der geplatzten Dot-Com-Blase hatten die gesenkten Zinsen noch zu einem Wachstum geführt, heute steigen trotz der Nullzins-Politik der EZB nur Immobilienpreise in den Metropolregionen und Kurse von Wertpapieren. Wer davon nichts hat, verliert, während wenige Reiche immer reicher werden.
Auch global gesehen kommt die Armut immer näher. Früher war Europa das prosperierende Zentrum und die Schwellenländer die Peripherie. Heute gelten Deutschland, Österreich, Skandinavien und die Niederlande als Zentrum – der Rest Europas ist abgehängte Peripherie.
F: Sie sprechen davon, dass Sie einen Film machen, der die Solidarität stärkt. Was ist darunter zu verstehen?
A: Fast wir alle sehen in den anderen immer mehr Konkurrenten. Gleichzeitig wird es in Zukunft wohl immer weniger gesicherte Jobs in Industrie und Handel geben. In dieser Situation shen wir es als die wichtigsten Perspektive, dass die vereinzelten Konkurrenten ihre gemeinsamen Interessen erkennen, sich trotz des Wettbewerbs organisieren und zu solidarischen Handen finden. Überall wo Ansätze derartiger Solidarität praktiziert werde, sei es in Betrieben, die nach den Prinzipien des Gemeinwohls arbeiten, Initiativen des Foodsharings oder der Umsonstläden, all diese Bereiche werden wir wichtige Keimzellen einer neuen solidarischen Gesellschaft herausstellen.
F: Sie haben bereits 45.000 Euro an Spendengeldern für den Film gesammelt. Was ist Ihr nächstes Ziel?
A: Wir müssen bis zum 1. September 110.000 Euro aus den Mitteln der Bürger vorweisen können - sonst sind alle Fördermittel die wir eingeworben haben perdu. In der Filmindustrie werden normalerweise nur Leute gefördert die schon viel Geld haben. Der Teufel scheißt eben auch hier auf den größten Haufen.
Interview: Ben Mendelson