Intro - Immer unterm Strom

Zu Herman van Veens Lied „Schnell weg da, weg da weg“ – Es rennen Menschen, hasten, Hyperaktive überall. Wie ferngesteuert durch mit Kopfhörer verbundene Smartphones heftig ins Leere Sprechende. Eine Mutter am mobilen Telefon koordiniert genervt Termine, ihr Zögling schreit. Ein Vater rennt zum Kindergarten, zwei kleine Kinder mit Mühe hinterher. Ein anderer joggt, schiebt dabei einen Kinderwagen, telefoniert und schluckt eine rote Pille. Im Café halbe Gesichter hinter Laptops. (Fast) ständig im Stress und auf Konkurrenz gefasst in allen Lebenslagen. „Wir müssen konkurrenzfähig werden!“, ist die zentrale Losung der globalisierten Welt, die Kontinente und Unternehmen samt deren Mitarbeiter eint. Wer auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft mitspielen will, muss sich schon von klein auf mit allen Fasern dafür rüsten. Die Konkurrenz ist uns inzwischen eigen. Unsere Selbstbeherrschung ist nur die subjektive Seite eines objektiven Zwangs. Wie konnte es zu dieser Entwicklung zum allseits flexiblen Menschen kommen? War sie unvermeidlich? Der Film „Der markgerechte Mensch“ wird diese und die folgenden Fragen untersuchen: Was macht es aus den Menschen, wenn sie sich jederzeit marktgerecht profilieren müssen? Und was wird dabei aus unserer Gesellschaft? Gab es Alternativen und welche gangbaren Auswege gibt es heute?


Der gläserne Mensch

Wir lernen Eleonore kennen, die  sich seit längerem überall bewirbt. „Bei einem Vorstellungsgespräch sprach mich der Personalchef auf meine Aktivitäten als Schulsprecherin und im Fachschaftsbeirat an der Uni an. Der hat sich alles aus dem Internet rausgeholt, was er über mich finden konnte, vor allem aus Facebook und StudiVZ.“

Heute informieren sich bereits 52% der Unternehmen vorab im Internet, um die Fähigkeiten von Ausbildungs- und Arbeitsplatzbewerbern einzuschätzen. Die Psychologen Sandra Matz und Michal Kosinksi von der Universität Cambridge haben ein statistisches Werkzeug entwickelt, das in der Lage ist, auf Grundlage der Facebook-Profile sogar ein Psychogramm der Nutzer zu entwerfen. Mit dem Tool "youarewhatyoulike" kann man mit ein paar Mausklicks einen Persönlichkeitstest vornehmen. Die Software durchscannt das gesamte Facebook-Profil: Bilder, Gefällt-mir-Angaben, Gruppen, Freunde. Algorithmen analysieren Likes und leiten aus den Vorlieben Charakterzüge ab. Big Data hilft Arbeitgebern beim Auswahlprozess. Aber auch allgemeine medizinische Untersuchungen vor den Bewerbungsgesprächen - inklusive Blutbild - sind immer mehr im Trend.

Professor Byung-Chul Han für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin: „Früher standen Unternehmen miteinander in Konkurrenz. Innerhalb des Unternehmens war dagegen eine Solidarität möglich. Heute konkurriert jeder mit jedem und immer härter, auch innerhalb eines Unternehmens. Diese absolute Konkurrenz erhöht zwar die Produktivität enorm, aber sie zerstört Solidarität und Gemeinsinn.


Woher kommt das?

Auf der Basis hoher Wirtschaftswachstumsraten seit dem 2. Weltkrieg hatten Arbeitskämpfe grundlegende soziale Rechte und auch soziale Aufstiegsmöglichkeiten für breitestes Bevölkerungsschichten erstritten, die für unsere Gesellschaft noch bis in die 90er Jahre grundlegend waren. Bis dahin waren die westlichen Länder vor allem geprägt durch eine Welt großer Industrien und Büroanlagen mit einem Heer von Mitarbeitern mit Tarifverträgen. Das sogenannte »Normalarbeitsverhältnis« (die unbefristete Arbeitsstelle mit Kündigungsschutz, die ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit gewährt) war in dieser Zeit die Regel. Solidarität und Gemeinsinn hatten für die meisten Menschen einen hohen Wert.

Bereits in den 70er Jahren begann aber ein langsamer Rückgang des hohen Wirtschaftswachstums. Alle Anstrengungen keynesianischer Stimulierungsprogramme haben das nicht verhindern können. So wurde es seit den 1980er Jahren zuerst in den USA und auch in Großbritannien modern, den schlanken Staat und die Beseitigung aller Schranken für Markt und Wettbewerb zu fordern. Gleichzeitig tat man alles, um den globalen Wettbewerb zu entgrenzten.

Diese neoliberale Politik wurde in Kontinentaleuropa  in Deutschland vor allem zu Beginn des neuen Jahrtausend von der Rot-Grünen Regierung Schröder/Fischer aufgegriffen. Noch heute ist die deutsche SPD darauf stolz, dass man sich damals so gut im Wettbewerb positioniert und mit einer massiven Senkung der Unternehmenssteuern und der Deregulierung der Arbeit deutschen Konzernen enorme Kostenvorteile verschafft hatte. Frank-Walter Steinmeier, SPD, 2013 vor dem deutschen Arbeitgeberverband: “ Wenn sie sich in gerechter Weise zurück erinnern, dann hat es die entscheidenden Steuersenkungen - und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro - unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben: Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes, mit der Senkung des Eingangssteuersatzes, mit der Senkung der Unternehmenssteuern. Auch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Halbierung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung……“

Seither gilt diese Politik der Senkung von Unternehmenssteuern und der Lockerung des Arbeitsrechts als der Schlüssel, um internationale Investoren anzulocken. Und Deutschland ist das Paradebeispiel für den Erfolg: Beste Wirtschaftsdaten bis in die Gegenwart!!


Flexibilisierte Menschen in einer flexibilisierten Produktion

Die Kehrseite des Erfolgs ist der Einzug flexibilisierter Menschen in eine flexibilisierte Produktion. Für viele Beschäftigte mag diese Entwicklung der Beginn einer neuen großen Freiheit sein. Die meisten empfinden das gleichzeitig aber als große Verunsicherung und fühlen sich dem nicht gewachsen. Michael Hartmann, Professor für Elitensoziologie rechnet uns vor.: „Vor 20 Jahren waren in Deutschland 67,7% der Beschäftigten in einen Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht. 39% sind es nur noch heute! 43,5% der Menschen arbeiten in permanenter existentieller Unsicherheit! Knapp die Hälfte der Beschäftigten befindet sich in Praktika, wiederholt befristeter Arbeit, Werkverträgen und Leiharbeit. Manch gut Gebildete haben 3 Jobs, um über die Runden zu kommen.“ Sogar die vollkommen ungesicherten Jobs der „Crowdworker“ (Internet-Arbeiter) und der „Gig-Economy“ (Auftragsarbeit per App) breiten sich gerade schnell aus. Diese Jobs funktionieren auf Honorarbasis und dabei gewinnt oft der Billigste: Eine Lektorin prüft das Buch eines etablierten Verlags für 7,90 Euro Stundenlohn. Das ist nicht der Mindestlohn.  Aber die Frau arbeitet ja frei und bestimmt ihren Preis selbst. Ein Pressefotograf erhält 40 Euro für ein abgedrucktes Bild. Selbst Professoren werden mittlerweile als freie Uni-Mitarbeiter eingestellt. Auf Internetplattformen wie MyHammer versteigern Handwerker ihre Arbeitskraft. Hier bekommt derjenige einen Auftrag, der sich für den niedrigsten Stundenlohn wie z.B. 5,80 Euro verdingt. Dabei wird der „Crowdworker“ ständig bewertet. Fällt die Bewertung unter 75%, bekommt er nur noch schlechter bezahlte Jobs. Großkonzerne wie Audi, Telekom, Henkel, Deutsche Bank oder Coca-Cola, aber auch NGOs wie Greenpeace lagern ihre Arbeit bei Crowd-Plattformen aus. Ganz neu sind sog. Bereitschaftsverträge, auf deren Grundlage beispielsweise Verkäuferinnen bei H&M oder Kuriere bei Foodora arbeiten. Sie müssen sich sechs Tage die Woche fast rund um die Uhr in Bereitschaft halten und dürfen dann doch oft nur die garantierten zehn bis 15 Stunden pro Woche arbeiten – und das für einen Hungerlohn.


„Fair Living Wages“

 H&M Deutschland: Faire existenzsichernde Löhne, unter diesem Titel hat jetzt H&M sein „Programm für die Verbesserung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Beziehungen“ veröffentlicht. Die Arbeit an „verbesserten Arbeitsbedingungen“ stehe „ganz oben auf unserer Agenda“. Es duzen sich vom Chef bis zum einfachen Mitarbeiter alle. Der Umgangston ist locker, die Atmosphäre in den Modeläden von Hennes & Mauritz soll es auch sein. Musik säuselt aus den Lautsprechern der Shops. Und die smarte H&M-Direktorin für Nachhaltigkeit Helena Helmersson verkündet, man versuche auch, „in Niedriglohn-Ländern die Arbeiter dazu zu ermutigen, für gerechte Bezahlung einzutreten, sich zu organisieren. So, wie wir es in Europa tun, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen.“

 Die Hamburger H&M Verkäuferin Veronika Marquard, 27,  weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll, als sie dies sieht. Bei H&M gebe es wohl kaum einen Betriebsrat, der nicht massiv drangsaliert, mit Internetsperre bestraft und fristlos gekündigt wurde, wenn er sich für „verbesserte Arbeitsbedingungen“ eingesetzt habe. Mit ihrem Bereitschaftsvertrag komme sie trotz ständiger Bereitschaft oft nur auf 800€ netto im Monat. Sie könne auch keinen anderen Job zusätzlich machen, weil immer der Anruf droht, jetzt solle sie kommen. Weil das oft nur für 3-4 Stunden Arbeit ist und lange Anfahrtswege auch teuer sind, hat sie ein Zimmer in der Innenstadt gemietet. Auf 560€ ist die Miete jetzt gestiegen. Und das Schlimmste sei dabei: Es gebe keinerlei Solidarität unter den Kolleginnen. Jede ist auf mehr Stunden angewiesen als die vertraglich garantierten 10 Stunden. So versuchten nicht wenige, Stunden auf Kosten der anderen zu ergattern. Die Arbeit selbst mache wohl meistens Spaß. Aber lange werde sie das nicht durchhalten. Allein komme sie trotz peinlichster Sparsamkeit schon nicht aus. Aber irgendwann wolle sie ja auch eine Familie gründen und Kinder haben.


Irgendwo ist die Arbeit doch noch billiger

 China, Guangzhou: Allein in der VR China hat H&M mehr als 400 Zulieferfabriken, in denen der Konzern angeblich „die Arbeiter dazu zu ermutigen, für gerechte Bezahlung einzutreten, sich zu organisieren.“ Nicht ganz zufällig besuchen wir die MASSUE FASHION LTD – Fabrik in Guangzhou am obersten Ende des Stillen Ozean Deltas, dessen ozeanseitige Spitze Honkong bildet. Die Stundenlöhne liegen hier bei knapp 3 EURO. Gewerkschaften gibt es zwar, aber das sind staatliche Jubelorganisationen, die sich stets dadurch auszeichnen, dass sie Streiks in jedem Fall verhindern wollen. Doch auch hier kam es kürzlich zu einem spontan organisierten Streik. Doch der wurde von der Polizei mit größter Brutalität und mit zahlreichen Verhaftungen beendet. Der Streik richtete sich gegen die Absicht der MASSUE FASHION LTD, knapp die Hälfte der Produktion nach Nigeria auszulagern. Dort liegt der Stundenlohn nur knapp über einem Euro….

 Kaduna in Nigeria, eine Stadt mit gigantisch erscheinender Textilindustrie. Doch schon beim ersten Blick werden wir von Umstehenden eines Besseren belehrt. Seit den 70er Jahren habe die nigerianische Textilindustrie mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze an China verloren. Der Niedergang begann 1977, als die nigerianische Regierung die vollständige Liberalisierung des Textilmarktes verfügte. Schon bald tauchten auf dem nigerianischen Markt exakte Kopien der bisher einzigartigen Designs afrikanischer Stoffe aus China auf, die zudem noch viel billiger sind. Bei der armen Landbevölkerung kam dies gut an. Doch die einheimische Textilindustrie musste sich seither bis auf wenige Ausnahmen auf das Bedrucken aus China importierter Baumwolle beschränken und verlor so mehr als die Hälfte ihrer Beschäftigten. Jetzt baut in Kaduna zwar die D.V. Fashion Limited 1, ein Tochter der MASSUE FASHION LTD  aus Guangzhou eine neue hochmoderne Textilfabrik, doch an mehr als 800 neue Arbeitsplätze sei nicht gedacht, heißt es.


"Geschlafen wird am Monatsende"*

Benno Fries ist Trucker, für die nächsten sieben Tage ist er wieder auf Tour. Hamburg - Dortmund – Leipzig - Berlin - die ersten Stationen heute – die entscheidende Verzögerung schon am Rossmann-Lager in Kiel/Melsdorf, wo das Aufladen doppelt so lange braucht, weil dort jemand wegen Krankheit ausgefallen ist. Am Dispatcher – Schalter sind die Papiere noch nicht fertig. Maulig wird Benno angefahren, er solle seinen LKW aus dem Weg räumen. Nach ständigem Hin und Her kann er endlich nach einer dreiviertel Stunde durchstarten. Für eine Frühstückspause ist jetzt keine Zeit mehr. Erst in viereinhalb Stunden darf er wieder Pause machen. Am meisten regt ihn aber auf: „Wir sind keine Menschen mehr. Uns kann man beschimpfen, beleidigen, rumschieben. Das tut weh“.

Um Mitternacht, geht er für seine erste warme Mahlzeit in den Rasthof. Dort sitzen ein paar Trucker mit Wut im Bauch. Sie beklagen sich über ihre Arbeitgeber und die südosteuropäischen Kollegen. Ein dänischer Fahrer hat herausgefunden, dass sein Spediteur eine Briefkastenfirma in Schleswig-Holstein gegründet hat, um die viel strengeren dänischen Transport-Tarifvereinbarungen mit den laxen deutschen zu umgehen. Und bald sei das gar nicht mehr nötig, Brüssel will sowieso alle nationalen Begrenzungen abschaffen. Die Langdistanztouren werden jetzt nur noch von Osteuropäern gemacht. Die seien richtige Lohndrücker, empört sich ein Holländer. „Die können von den 300€ in ihrem Land leben wie die Könige, aber was mit uns wird, ist denen doch scheißegal!“. Jetzt kann sich ein tschechische Fahrer nicht mehr halten: „Wieso sind wir daran schuld? Bei euch will doch keiner unter unseren Bedingungen arbeiten. Wir bekommen nur 20% eures Normal-Lohnes. Ja, Eure deutschen Spediteure zahlen uns das, „Nord-Süd“, DB-Schenker. Seit 3 Monaten bin ich von meiner Familie getrennt, warte tagelang auf Fracht. Komm mich mal besuchen in Hamburg. Schau, wie ich in meinem Truck tage- manchmal wochenlang ausharren muss!“.

2.300 € Brutto plus Spesen ist Bennos Lohn, aber nicht mehr lange, wenn Brüssel tatsächlich alle nationalen Begrenzungen aufhebt. Die Arbeitszeit beträgt offiziell 9 Std. pro Tag, darf aber auch 13 Std. und dreimal wöchentlich sogar 15 Std. betragen. Und selbst diese Höchstgrenzen übertreten flächendeckend viele Spediteure mit manipulativen Tricks. Über die EU-weit geregelten Lenk-und Ruhezeiten amüsieren sich alle. Kaum zu durchschauen weder für Polizisten noch Fahrer, weil hochkompliziert ausgefeilt. Und ein Musterbeispiel für Lobbyismus. Bisher hat noch keine deutsche Regierung die Frage nach einer sozialeren Gestaltung der Arbeitszeitregelung angepackt. „Wir sind rollende Zeitbomben, gefährden die Verkehrssicherheit“, erregt sich Benno. „Da werden die Fahrer bei Spezialkontrollen zu Strafgebühren verdonnert, nicht der Spediteur. „Aufbegehren ist nicht, dann kann ich gleich meine Papiere abholen. Wenn ich weg bin, warten 3 osteuropäische Fahrer auf den Job.“

*Geschlafen wird am Monatsende, Titel eine Buchs von Jochen Dieckmann, Piper 2011


Moderne Sklaven

 Agadez, Niger: Wir treffen Muhammed Yusuf, einen 24-jährigen Nigerianer aus Kaduna, an einer staubigen Bushaltestelle in Agadez im nördlichen Nachbarstaat Niger. Er wurde von seiner Familie ausgewählt als der Kräftigste und der Cleverste des Clans. Seit den 80er Jahren sind die meisten von ihnen arbeitslos. Für die Nachwachsenden scheint Europa die einzig realistische Perspektive. So haben sich die Eltern schweren Herzens entschieden: Muhammed Yusuf trauen sie zu, den Traum vom besseren Lebens in Europa zu verwirklichen. Doch nun  ist er schon wieder zurück, zurück aus Libyen, wo er auf dem geplanten Weg nach Europa sechs Monate lang verkauft und gefoltert wurde.

 Von uns zunächst unbemerkt taucht aus den Massen, die die Oasenstadt Agadez am Rande der Sahara überschwemmen, Yusufs Schlepper auf. Yusuf schreit ihn an, wegen ihm sei sein Freund in Lybien gestorben.  Abahi (nicht sein richtiger Name), zuckt nur mit den Schultern, es tue ihm leid. Verzweifelt und hungrig fragt Yusuf, ob er wenigstens etwas zu essen habe. Abhai antwortet im Gehen: „Gott wird Dir helfen.“

 Heute ist das Agadez die nördlichste Stadt, die Westafrikaner ohne Papiere erreichen können – ein Teil der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten, die Zoll- und Visumfreiheit für die Region garantiert. Das hat Agadez zu dem Ort gemacht, wo sich die meisten mit dem Traum vom besseren Leben in die Hände von Schleppern und Schmugglern begeben.

 Doch Yusuf ist von dieser Odyssee schon zurück - ernüchtert, ausgebrannt und hoffnungslos. Jetzt wieder zu den Eltern zurückzukehren, das werde er nicht überleben. Mit den Ersparnissen der Familie hatte er sich vor Monaten zusammen mit seinem Freund Bundu auf den Weg nach Agadez gemacht. Er war von seinen Freunden vor den Schrecken in Libyen gewarnt worden, sich nicht dem falschen Schlepper anzuvertrauen. Aber Abhai schien ihnen ehrlich, und so buchten sie bei ihm die Passage über Algerien nach Italien.

 Er wusste, dass es einen Weg durch die Wüste nach Algerien gibt. Aber in der Wüste gebe es keine Wegweiser. Und nach vier Tagen hörte er, „Willkommen in Libyen“. Yusuf glaubte zu träumen, doch dann hätte er schon bald bemerkt, dass Abhai ihn und seinen Freund Bundu an einen Mittelsmann verkauft hatte. Der fesselte ihnen die Hände und aneinandergebunden wie Ziegen seien sie zu viert auf die Ladefläche eines Toyota Hilux verfrachtet worden. In der libyschen Stadt Sabha, einst berühmt als Heimat von Gaddafi, habe man sie neben einer beliebten Bäckerei auf die Straße geworfen unter einem Schild „zu verkaufen“. Ein in Sabha ansässiger Herr namens Tukur, der traditionelle Roben trug und von zwei sperrigen Schergen flankiert war, kaufte ihn und seinen Freund. „In Tukurs Haus sprachen sie nur englisch und schrien Geld, Geld, Geld, wir sollten die Eltern anrufen und sie um Lösegeld von Hunderten Dollar bitten. Die Eltern sagten jedoch, sie könnten unmöglich zahlen. Da wurden wir so geschlagen, dass sie am Telefon unsere Schreie und Klagen hörten. Ich musste mit ansehen, wie unter den Schlägen mein Freund Bundu starb.“ In der Verwirrung über den Tod habe er aber zum Glück fliehen können. Ein Fahrer erbarmte sich seiner. Den Lohn für die Mitnahme holte er sich bei der Internationalen Organisation der Vereinten Nationen für Migration. Die bezahlt die Rückreise der tausenden Unglücklichen ins nigerianische Agadez. Die UN-Agentur will Yusuf auch die Fahrkarte zurück nach Nigeria zu den Eltern bezahlen. Doch Mohammed Yusuf würde lieber sterben vor Scham. „Ich habe es versaut. Und nur ich bin selbst dran schuld


Andere haben es geschafft..

Deutschland, Wustermark: 6.000 Kilometer weiter nördlich hören wir fast denselben Satz: „Ich habe aus meinem Leben nichts gemacht. Ich bin selbst schuld daran.“ Benno sitzt wieder auf dem Bock. Gerade kommt er beim Rossmann Zentrallager in Wustermark bei Berlin an. Nachdem der LKW angedockt hat, beginnt sogleich ein kleines Heer schwarzer Lagerarbeiter mit der Aufschrift „Promota.de“, die Ware zu entladen und auf 24.000 Quadratmeter Lagerfläche zu verstauen. Keiner dieser emsigen „Bienen“ spricht deutsch. Aber da hören wir Hausa, die Hauptsprache im Norden Nigerias und im Süden Nigers. Auf Hausa erfahren wir dann, dass die Lagerarbeiter mit Werkverträgen arbeiten. Hier und vor allem auch in Berliner Rossmann-Filialen. Regale aus- und einräumen sei ihr Job, immer nachts, tags werden sie von Promota in eine von der Firma gestellte Unterkunft gebracht. Als Neuer habe man ein 4-Bett-Zimmer. Im Waschbecken dürfe man notdürftig die Wäsche waschen, auf einer selbst angeschafften Herdplatte kochen und ohne Tisch essen. „Offiziell bekommen wir seit kurzem einen Stundenlohn von 8,50€. Aber alle angeblichen Kosten der Firma werden abgezogen, 150-250€ für das Zimmer, die Kosten des Transports, die Stellung der Firmenklamotten. So bleiben kaum mehr als 5€ pro Stunde. Aber es sind doch etwa 500€ am Monatsende mehr als bei ähnlicher Arbeit in Nigeria“, erzählt Coulibaly Yahyah aus Gombe im Osten Nigerias. So könne er wenigstens jeden Monat einige hundert Dollar nach Nigeria schicken. Es ist jetzt schon seine fünfte Stelle. Alle drei Monate wird er woanders hin verliehen. „Immer fremde Leute, immer fremde Firmen, fremde Regeln. Aber die Hauptsache ist, die zuhause glauben, dass es mir gut geht.“


 Zu Besuch bei Oxfam

 Oxfam stellt seinen neuen Bericht „An Economy for the 1%“ vor: „Acht Milliardäre besitzen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die Lücke zwischen Arm und Reich ist größer als bisher angenommen. Die Konzentration von Reichtum in den Händen weniger nimmt ständig zu, während Hunderttausende nicht genug zu essen haben und Milliarden Menschen mehr schlecht als recht leben. Das hängt auch mit der Macht internationaler Konzerne zusammen: Sie nutzen aggressive Steuervermeidungs-Techniken, verschieben ihre Gewinne in Steueroasen und treiben Staaten in einen ruinösen Wettlauf um Niedrigsteuersätze. Die Verlierer sind wir alle! Am stärksten trifft es die Menschen in armen Ländern. Durch Steuervermeidung fehlen diesen Staaten derzeit mindestens 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr.“


Die Fertigmacher

Wo Demokratie sich den Finanzmärkten unterordnen muss, werden Gewerkschaften und Betriebsräte mehr oder weniger als überflüssig und zu Bekämpfende erachtet. So ist ein ganz neues Berufsfeld entstanden: Die Fertigmacher oder Union Buster. „Das sind Arbeitsrechtsanwälte, Wirtschaftsdetektive, Psychologen, die im Auftrag des Arbeitgebers Strategien entwickeln, wie man Betriebsräte klein kriegt“, erzählt Günther Knop, Betriebsrat der Post im Callcenter Schwerin. „Früher hat es das in Einzelfällen gegeben, aber erst seit der Deregulierung ist eine ausdifferenzierte Branche von professionellen Gewerkschafts- und Betriebsrats-Bekämpfern entstanden, übrigens ein überaus lukratives Geschäft! Durch ihren Einsatz ist heute die gesetzlich garantierte Wahl zum Betriebsrates ein riskantes Abenteuer geworden.“

"So schmeißen Sie Betriebsräte aus ihrer Firma, die nicht spuren! Sichern Sie sich jetzt den kostenlosen Praxisleitfaden „Kündigung von Betriebsräten“. Damit wirbt Michael G. Peters, Rechtsanwalt und ehemaliger Firmenkundenbetreuer einer deutschen Großbank. In seinem monatlich erscheinenden Ratgeber „ArbeitGeberRechte“ heißt es "So etwas, wie „unkündbare“ Mitarbeiter gibt es nicht. Egal, ob Betriebsratsmitglied, Schwangere oder Behinderte – wer sich nicht regelkonform verhält, FLIEGT RAUS!“

Für die Unternehmen konzipieren sogenannte Psychoingenieure „Human Ressource Management Konzepte“ bei denen die Angestellten in Kategorien eingeteilt werden. Zum Beispiel Günthers Kollegin Marie M. „Seit ich in den Betriebsrat gewählt wurde, gehöre ich nur noch zur Kategorie „Stück Holz“, also Abfall, der rausgekehrt werden muss. Ich habe hier als Lehrling angefangen und bin von der Geschäftsleitung immer gefördert worden. Meine Beurteilungen waren bis zur Betriebsratswahl hervorragend. Ich gehörte zu den High Performern. Der Absturz vom vorher stark protegierten Arbeitnehmer zum sogenannten Low Performer kam dann sehr plötzlich. Du wirst weder gegrüßt noch angesprochen. Wochenlang wurde ich von einem Detektiv ausspioniert.– meine Familienverhältnisse und die finanzielle Situation durchleuchtet, auch meine Nachbarn befragt – meine Leistungsbilanz, Gesundheit, psychische Verfassung und das Verhältnis zu den Kollegen beurteilt. Außerdem sind betriebliche Informationen nicht mehr bis zu mir durchgedrungen. In den Betriebsversammlungen wurden mir von der Geschäftsführung Fehler und Falschaussagen unterstellt. Und wenn sie eine Schwachstelle finden, stochern sie immer wieder rein.“

Alles dient dazu, deine Persönlichkeit schwer zu beschädigen,“ erklärt Günther Knop. Er ist mit der Arbeitsrechtsklage von Marie M. befasst. „Zu Weihnachten wurde sie plötzlich an einen anderen Arbeitsplatz versetzt, wo sie völlig allein war, praktisch nichts zu tun hatte, einschließlich Lohneinbußen. Und mit Arbeitszeiten, die für eine Alleinerziehende kaum zu managen sind. Marie M. ist dann psychisch zusammengeklappt. Sie ist fix und fertig und krankgeschrieben. Natürlich nehmen wir uns Anwälte. Aber das betrifft ja nicht nur Betriebsräte, sondern auch andere Gewerkschafter im Betrieb. Und schnell sind wir rund um die Uhr mit Klagen und Gegenklagen beschäftigt. Also sind das letztlich auch Strategien, um uns von unseren eigentlichen Kernaufgaben abzuhalten.“


Ein Traum

Wir Kraftfahrer müssten doch eigentlich eine immense Kampfkraft haben. Wenn wir streiken würden, lägen große Teile der europäischen Wirtschaft lahm. Warum wehren uns eigentlich nicht gegen diese Zumutungen?“, fragt Benno.Wir Trucker sind doch immer unterwegs und meist auch noch jeder gegen jeden,“ winkt ein Kollege ab. Das erschwere Diskussionen, Zusammenhalt und Organisation. Trotzdem gab es schon verschiedentliche Versuche, zuletzt im Mai 2014 vor dem Brandenburger Tor und in sieben anderen europäischen Städten, als internationaler Protesttag unter dem Motto „Gegen die Sklaverei in der Transportbranche. Für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und gleichen Lohn für gleiche Arbeit Grenzüberschreitend für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in ganz Europa“. Die Beteiligung war gering und blieb ohne jegliche politische Folgen.


Hobbes oder Rousseau

Benno Fries ist zuhause. Er hat zwei Tage frei und bringt nun wieder den 7-jährigen Frieder in die Schule und die 3-jährige Maja in den Kindergarten. Und schon kommt die Mutter von Majas Freundin Esther auf ihn zu und erzählt ihm freudestrahlend, dass ihre Tochter es beim Rechenwettbewerb als einzige geschafft habe, bis 50 zu erzählen. Benno schüttelt nur den Kopf und sagt, er halte nichts von solchen Wettbewerben. Die Kindergärtnerin antwortet Ihm, nach ihrer Erfahrung sortierten sich tatsächlich schon im Kindergarten die Kleinen als Sieger und Verlierer. Allerdings seien die „Sieger“ weniger bereit, anderen Kindern zu helfen.

Hier stellt der Film die Frage: Ist es wirklich so, dass der Mensch per natura ein egoistisches Individuum ist, wie Thomas Hobbes lehrte? Oder ist der Mensch von vornherein als soziales Wesen auf Kooperation und Hilfsbereitschaft angelegt, wie Jean-Jacques Rousseau es behauptete? Seit rund 20 Jahren forscht an der Yale Universität in den USA ein Wissenschaftlerteam um Nicholas Christakis und Paul Bloom zu dieser Frage. Psychologen, und Primatenforscher fanden heraus, dass Attribute wie Mitgefühl, Altruismus und Hilfsbereitschaft sowie die Fähigkeit zur Kooperation zu den fundamentalen Eigenschaften des Menschen zählen. Ausgangspunkt sind entwicklungspsychologische Studien, die bereits im Babyalter ansetzen und das Bild eines Menschen zeigen, der hochgradig kooperativ ist: In ihren Studien zeigen sie, dass bereits Babys in den ersten Lebensmonaten über ein moralisches Urteilsvermögen, eine Art Gerechtigkeitssinn und spontan altruistische Verhaltensweisen verfügen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts um Tania Singer und Felix Warnecken bei einer Studie über etwas ältere Babys.

Doch wie kann es dann sein, dass unsere Gesellschaft so sehr von Selbstbezogenheit, Materialismus und Geldgier beherrscht wird? Die Vermutung liegt nahe, dass schon Kleinkinder von den kulturellen Rahmenbedingungen geprägt werden, die für die Förderung kooperativen Verhaltens nicht förderlich sind. Denn „altruistisches, uneigennütziges Verhalten zahlt sich in unserer Gesellschaft eigentlich nicht aus und wird schon im Kindergarten und vor allem in der Schule ausgenutzt. Wer regelmäßig seine Hausaufgaben abschreiben lässt, wird allenfalls als Streber eingeordnet“, sagt der Entwicklungspsychologe Manfred Tücke.


Das Leben ist nun mal durch Leistungswett­bewerb geprägt

Zurück im Kindergarten von Maja Fries. Das beliebte Spiel „Reise nach Jerusalem“ sorgt dafür, dass Runde um Runde ein enttäuschtes Kind ausscheidet und die letzten Verbliebenen triumphieren. Ein Konkurrenzspiel, das sich einreiht in die zahllosen Wettbewerbe, die im Kindergarten beginnen und in der Schule fortgesetzt werden. Darauf angesprochen entgegnet die Kindergärtnerin: Ja, sie wisse wohl, dass Konkurrenzspiele zu einer Missachtung der Bedürfnisse und Wünsche anderer führten und eine ungerechte Misserfolgszuweisung darstellen. Deshalb habe sie auch schon versucht, als Alternative zur „Reise nach Jerusalem“ die „Reise nach Gruppenhauf“ zu spielen. Auch hier wird in jeder Runde ein Stuhl weggenommen, aber kein Kind scheidet aus, sondern die ganze Schar muss versuchen, auf im­mer weniger Stühle zu klettern bis die ganze Gruppe auf nur drei Stühlen einen Gruppenhaufen bildet. Aber in letzter Zeit werde den kooperativen Spielen von El­tern eine deutliche Skepsis entgegengebracht: Die Kinder müssten doch auch lernen, verlieren zu können, und das Leben sei nun mal durch Leistungswett­bewerb geprägt. Eine Mutter: „Schauen Sie sich unsere 15-jährige Tochter an. Immer geht’s nur um Chillen und Freundschaften. Meinen Sie, die würde einmal im Haushalt Hand anlegen? Ernsthafte Arbeit, auch in der Schule, ein Fremdwort. Das ist auch das Ergebnis der laissez-faire Erziehung im Kinderladen. Doch das Leben ist anders. Ich lebe nur noch für die Arbeit: Kind zum Kindergarten bringen, abholen, alles im Eilschritt, denn 3 Jobs warten, Einkaufen, Haushalt und dann vor Müdigkeit nicht schlafen.“


Wer scheitert ist selbst schuld

Niels van Quaquebeke, Professor für „Leadership and Organizational Behavior“, gibt zu bedenken, dass es in unserer Gesellschaft durchaus üblich geworden sei, „dass das ökonomisierte Denken sogar soziale Beziehungen beherrscht: Menschen sind meine Freunde, wenn sie mich weiterbringen. Was muss ich geben, um wieviel zu erhalten? Die Ökonomisierung der Moral hat teils totalitäre Züge. Wer scheitert, versagt. Und wer versagt, ist selbst schuld. Der Einzelne hat für sein mögliches Scheitern sich die Verantwortung vollständig selbst zuzuschreiben. Eine Ethik des Scheiterns gibt es nicht.“


Eine Epidemie psychischer Beschwerden

Wir sind im Krankenhaus. Benno Fries` Partnerin, Mia Fries, ist seit fünf Jahren hier Fachärztin für Innere Medizin, am Ende eines Jahres immer mit der Unsicherheit, dass der Vertrag nicht erneuert wird oder die Bedingungen sich verschlechtern. Sie hat erlebt, wie in diesen fünf Jahren die Anzahl der PflegerInnen in ihrer Abteilung um ein Drittel reduziert wurde. Da die Bezahlung des Krankenhauses über zertifizierte Dienstleistungen erfolgt, müssen Mia und auch die PflegerInnen die Vielfalt ihrer Arbeit in zertifizierten Kategorien belegen. Diese Dokumentationspflicht nimmt fast die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch. Für die eigentliche Arbeit mit Patienten bleibt ihr immer weniger Zeit. Vor allem die Pfleger und Pflegerinnen sind völlig überfordert. Der ungeheure Stress bedrängt Mia mit einem zunehmend schlechten Gewissen gegenüber den Patienten. Sie behandelt eine Patientin, die über Herzrhythmusstörungen klagt. Dabei erklärt sie, dass jeder Patient mit einer Hauptdiagnose und maximal 2 Nebendiagnosen aufgenommen wird. Damit errechnet man wegen der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung das von den Kassen zu bezahlende „Kostengewicht“ des Patienten. Das Verrückte dabei sei aber, dass innere Krankheiten wie Herzrhythmusstörung, Bluthochdruck, Schilddrüsenunter- und überfunktion oft eine psychische Komponente habe. Doch die sind in der Inneren nicht zertifiziert und werden nicht behandelt. Der Psychologie-Professor Dr. Mattias Burisch spricht im Zusammenhang der zunehmenden Anzahl psychischer Krankheiten von einer „Erschöpfungsspirale“. „Die psychische Überlastung durch Faktoren wie Arbeitsdruck, Verunsicherung, Zukunftsangst, und problematische Interaktion hat in den letzten 20 Jahren zu einer wahren „Epidemie“ psychischer Erkrankungen geführt.“ Den dadurch verursachten volkswirtschaftlichen Schaden bezifferte die Bundesregierung im Jahr 2008 mit 99,6 Mrd. Euro. Diese Zahl hält Burisch aber nach seinen Erfahrungen für eine Untertreibung.


Nuit Debout – die Nacht der Aufrechten

Auf der Place de la République in Paris protestieren vor allem junge Menschen gegen die nun auch in Frankreich geplante Deregulierung der Arbeit. "Ich will nicht mein Leben verlieren, indem ich immer zu den Gewinnern zählen muss", und "Wie man der Logik der Konkurrenz entkommt" ist ein zentrales Thema der permanenten Diskussionen. Ein Philosophiestudent erklärt: „Es ist eigentlich nicht verständlich, dass die Menschen immer mehr im Stress sind. Die Produktion wird immer effektiver. In immer kürzerer Zeit mit weniger Arbeitskraft wird dasselbe und sogar ein besseres Produkt hergestellt. Logisch wäre doch, dass jeder Beschäftigte weniger Stunden und Tage arbeiten muss und dasselbe Gehalt bzw. bei einem besseren Produkt ein höheres Gehalt bekäme!“


Die 35-Stunden-Woche

Den älteren Deutschen mag diese Argumentation bekannt vorkommen. So in etwa wurde in den 80er Jahren der Kampf der Deutschen Gewerkschaften für die 35-Stunden-Woche begründet. Archivaufnahmen zeigen es: “Es werden immer weniger Menschen gebraucht. Der Konsum kann nicht so sehr ausgeweitet werden, wie die permanente Effektivitätssteigerung es verlangt. Daher müssen wir in einen Kampf für eine Verkürzung der Arbeitszeit mit Lohnausgleich eintreten.“ In Deutschland haben die Gewerkschaften diesen Kampf aber wieder vergessen, als ihre Genossen mit den Grünen in die Bundesregierung gewählt wurden und als erste in der EU die Arbeit deregulierten – im Gegensatz zu Frankreich. Dort gilt noch heute die 35-Stunden-Woche.


Zurück zur Place de la République

Am Rand des Platzes ein entschiedener Befürworter der Arbeitsreform „Frankreich ist das einzige Land, wo noch die 35-Stunden-Woche gilt. Es ist doch nicht so schwer zu verstehen, dass mit solch strengen Arbeitszeitregeln die französischen Unternehmen einfach nicht mehr wettwerbsfähig sein können. Deshalb müssen wir, ob wir wollen oder nicht, die Arbeitszeiten flexibilisieren.“ Auf dem Platz trifft nun zusammen mit dem Ökonom Michel Aglietta der Industrieminister Arnaud Montebourg (Mai 2012 - August 2014 ) ein. „Diese Politik, Arbeitskosten zu senken durch die Deregulierung des Arbeitsrechts, verringert die Nachfrage im Inland und erhöht die Profitabilität der Exportunternehmen. Alle Länder, die das machen, wollen Exportweltmeister wie Deutschland werden. Doch das wird nie funktionieren. Jedes Land mit Exportüberschuss braucht andere Länder mit einer defizitären Handelsbilanz. Irgendjemand muss die exportierten Waren ja kaufen. Die Politik der Deregulierung der Arbeit und der Erhöhung der Exporte ist deshalb immer eine egoistische Politik auf Kosten anderer Länder, die sich mit einem Handelsbilanzdefizit weiter verschulden. Die Exportweltmeister vergrößern nur die Kluft zwischen Sieger- und Verliererländern.


Patienten sterben wegen Personalmangel

Zurück in Deutschland. Vor der Asklepios-Klinik in Hamburg St. Georg sind mehr als tausend Beschäftigte und Patienten versammelt. Sie protestieren dagegen, dass der private Eigner weitere Bereiche der Klinik auslagern will mit dem Ziel, 20 Mio. € Personalkosten im Jahr zu sparen. Denn die ausgelagerten Kollegen fallen nicht unter die Tarifbindung. Unter den Kundgebungsteilnehmern entdecken wir Mia Fries. Sie erzählt uns, dass es seit der Privatisierung bei allen Neuverträgen nur noch befristete Arbeitsverträge gibt und die Arbeitszeit auf 42 Stunden ausgeweitet wurde. „Auch die Zahl der Pflegerinnen wurde ausgedünnt und Dienste wie das Putzpersonal ausgelagert. Das ist gesundheitsgefährdend. In Zeiten multiresistenter Krankenhauskeime bleibt den Pflegern, aber auch vielen Ärzten nicht genügend Zeit, alle gesetzlich vorgeschriebenen Hygienemaßnahmen umzusetzen. Das Stethoskop zum Beispiel wird nur von den wenigsten desinfiziert, wenn es bei einem und dann bei einem anderen Patienten benutzt wird. So werden diese Keime übertragen. Man sagt uns, wir müssten ja nur die Hygienegesetze einhalten, aber mit der Personalsituation ist das einfach nicht möglich. 40.000 Menschen sterben pro Jahr letztlich am Personalmangel.“ Auch in der Presse wird von links bis rechts immer wieder aufs Neue heftig über die Geschäftsgrundlage der privatisierten Kliniken diskutiert.

Asklepios fuhr 2015 in Hamburg auf dem Rücken von PflegerInnen und Patienten so hohe Gewinne ein, dass der Eigentümer Bernhard gr. Broermann zwecks Steuervermeidung das Hamburger Luxushotel Atlantik kaufte.


Folgen der einseitigen Deregulierung

Die entscheidenden Reformen, die das deutsche Gesundheitswesen mit den Prinzipien Wettbewerb und Umstellung auf profitorientierte Wirtschaftsunternehmen bis heute prägen, wurden ebenso wie die Deregulierung der Arbeit von der ersten rot-grünen Bundesregierung verabschiedet. Die heute weitverbreitete Kritik daran sei vielfach billig, sagt Arbeitsministerin Andrea Nahles. In den Zeiten des globalisierten Marktes habe die unbegrenzte Billiglohnkonkurrenz aus China, Indien und auch aus Osteuropa z.B. in den USA und Frankreich ganze Industrielandschaften hinweggefegt. Die beklagten rot-grünen Reformen hätten Deutschland vor solch einem Schicksal weitgehend bewahrt.

Der deutsche Finanzstaatssekretär von 1998 bis 1999 Heiner Flassbeck weist dagegen darauf hin, dass diese Reformen, vor allem die Senkung der Arbeitskosten mit der Arbeitsderegulierung, als einseitige deutsche Maßnahme im gerade gegründeten Euro-Währungsverbund katastrophale Folgen hatte. Denn ursprünglich sei im Euroraum eine synchrone Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vereinbart worden. „Wenn ich meinen Freund (Frankreich) einlade, mit mir einen Vertrag zu machen (den Euro), und in dem Augenblick, wo er sozusagen auf gleicher Höhe mit mir ist, ihm gegen's Schienbein trete oder ihn auf andere Weise daran hindere, mit mir mitzulaufen oder mitzumachen, ist das Betrug.“ Betrug oder nicht. Die Senkung der Arbeitskosten infolge der Arbeitsreform hat der deutschen Exportindustrie Wettbewerbsvorteile gebracht. Und so wird heute mit dem Verweis auf die deutschen Erfolge allen Ländern in Not, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich und Österreich als „alternativlose“ Fortschrittsbedingung die Deregulierung des Arbeitsmarktes zwingend empfohlen und bestimmten Ländern inzwischen auch aufgezwungen.


Ich habe geliefert“

Kurz vor seinem Staatsbesuch in Berlin Ende Januar 2016 sagte der Ministerpräsident Italiens Matteo Renzi, „Jetzt kann ich in Berlin über Fortschritte berichten. Mittlerweile ist Italien kein Problem mehr für die EU. Ich habe geliefert!“ Er hatte die als „Jobs act“ titulierte Arbeitsreform abgeliefert. Nun also auch deregulierte Arbeit in Italien.

Rom. Der 24-jährige Daniele hatte nach Jahren unbezahlter Praktika bei einem Fernsehsender Arbeit gefunden. Ende 2015 sollte der Zeitvertrag auslaufen. Doch die mächtige Betriebsgewerkschaft setzte durch, dass der Prozentsatz von Fristverträgen und Leiharbeit im Sender heruntergefahren wird. So erhielt Daniele noch rechtzeitig einen unbefristeten Vertrag. Er hätte die Welt umarmen können. Doch mit dem Jahreswechsel wurden diese unbefristeten Arbeitsverträge in sogenannte „Arbeitsverträge mit zunehmender Sicherung“ („contratto a tutele crescenti“) umgewandelt. Die machen jederzeit Entlassungen aus betrieblich nicht näher zu erklärenden Gründen möglich. Der Generaldirektor des Juliano Frecchiami dazu. "Die Aktionäre sind froh über jederzeit kündbare Arbeitsverträge, weil sie so die Möglichkeit haben, Kosten rasch zu senken.“ Zum Glück seien ja auch die Betriebsgewerkschaften durch die Reform geschwächt worden.

Arbeitsminister Giuliano Poletti, verteidigt die Reform: „Schon im ersten Monat nach Inkrafttreten des neuen Rahmengesetzes wurden mehr als 160.000 neue Langzeitverträge abgeschlossen – fast doppelt so viele wie im gleichen Monat des Vorjahres.“ Tatsächlich ist die Arbeitslosenquote aber nach einem kurzfristigen Absinken nach zwei Monaten wieder auf 13,7% angewachsen. Und nach wie vor sind 42,6 Prozent der 15-24-Jährigen ohne Arbeit. (Angaben lt. nationalem Statistikinstitut ISTAT) Daniele berichtet, dass der Sender nun auch die Möglichkeiten nutzt, die die Arbeitsreform mit der Ausweitung des Einsatzbereichs der so genannten „Arbeitsscheine“ geschaffen hat. Mit dieser Art moderner Tagelöhnerei beschäftigt der Sender Menschen ohne formellen Arbeitsvertrag stundenweise für einen Lohn von 7,50 Euro.

Auch Portugal hat geliefert. Bis vor kurzem war Portugal der „Musterknabe“ unter den sogenannten Schuldnerländern, weil sie u.a. die Arbeitsmarkreform detailliert umgesetzt hatten. Dennoch haben sich die Wirtschaftsdaten kaum verbessert, im Gegenteil. Die Gesamtverschuldung Portugals ist fast ein Drittel höher als in Griechenland. „Trotz großer Proteste gegen die Reform 2012 “ erzählt Joao, der damals einer der Aktivisten gegen die Reformen war, „arbeitet heute die Hälfte der 20-30Jährigen auf Honorarbasis oder auf kurzbefristeten Zeitarbeitsverträgen. Hire and fire ist hier gang und gäbe“ Er kommt aus Pacos de Fereira, das einst für seine Möbelproduktion sehr berühmt war. Der Bürgermeister Humberto Brito: „Für mich ist es unglaublich, dass sich bis heute die IWF-Mär hält, die Deregulierung des Arbeitsmarktes schaffe Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote liegt seit Jahren bei 17,5%. Eigentlich müsste sie noch höher sein, aber pro Jahr verlassen 100.000 gut Ausgebildete das Land, die größte Auswanderungswelle, die Portugal je erlebt hat. Die Löhne sind auf einem derartigen Tiefstand, dass hier in der Stadt ein Laden nach dem anderen zu macht – keine Kunden.“ Er blickt dabei wütend zum großen IKEA Gebäude. „Die können jetzt hier super billig produzieren lassen - auf Honorarbasis natürlich!“

Auch Spanien hat geliefert. Die Wirtschaft In Spanien ist zwar mit Hilfe gesenkter Löhne 2015 um 3% gewachsen, doch die Arbeitslosigkeit blieb auf ihrem Höchststand. Bei den Jugendlichen sind 53,7% ohne Arbeit, und das obwohl 9 von 10 Universitätsabsolventen das Land verlassen. Die Löhne haben sich schon dem griechischen Niveau genähert, wo 3€ pro Stunde keine Seltenheit mehr sind.

Überall im Süden der Eurozone dieselbe Entwicklung. All diese Länder müssen liefern. Nein, nicht den eigenen Wählern. Die Gewählten liefern den Finanzmärkten, den Investoren, die Rendite mit niedrigsten Löhnen erwarten. Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Egal wen die Griechen, Italiener, Spanier, Portugiesen und Franzosen wählen. Sie müssen die Verarmung ihrer Bürger liefern.


Gegenbewegungen

Wird „Solidarität“ zum aussterbenden Wert? Inmitten dieses allseits dominierenden Egoismus entwickelt sich eine Gegenbewegung. Professor Niels van Quaquebeke hat einige Vorboten in der Universität entdeckt: "An unseren Wirtschafts-Studenten beobachte ich, dass viele von ihnen nicht mehr studieren, um persönlichen Gewinn oder Gewinn für ein Unternehmen zu maximieren, sondern um alternative Wirtschaftsmöglichkeiten zu finden. Sie denken viel über soziale Wirtschaftsmodelle nach, über das, was man social entrepreneurship nennt."


Keimzellen des Gemeinwohls

Die Gemeinwohlbilanz ist das Herzstück der 2010 ins Leben gerufenen Bewegung der Gemeinwohlökonomie. Initiator ist der Österreicher Christian Felber, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sein Konzept trifft auf ein großes Bedürfnis: 2010 ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung, dass sich 88 Prozent aller Deutschen eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung wünschen.

Der Berliner Oberbaum-Kiez zwischen Spree und den S-Bahn-Gleisen ist ein Eldorado für internationale Immobilieninvestoren. Mittendrin der „Okto­berdruck“, eine Druckerei. Sie ist im Besitz der Belegschaft. Das Unternehmen orien­tiert sich am Gemeinwohl, achtet auf faire Arbeitsbedingungen und Gleichstellung. Das Konto wird bei einer Gemeinwohlbank geführt. Gedruckt wird mit leicht abbau­baren Biofarben auf Papieren mit höchsten Umweltstandards. Zudem gehört Oktoberdruck in Berlin zu den ersten Unternehmen, die eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen. Diese Bilanz misst nicht nur den erzielten Gewinn, sie erfasst auch Aspekte wie Reduktion negativer ökologischer Auswir­kungen und Arbeitsplatzqualität. Alle diese ökologischen und sozialen Faktoren werden dann bewertet, und ein Punktesystem zeigt an, wie groß der Einsatz für das Ge­meinwohl ist. Davon hängt ab, wie günstig die von der Gemeinwohlbank angebotenen Finanzierungsbedingungen sind.

Felbers Konzept des Gemeinwohls haben sich bereits hunderte Unternehmen verpflichtet. „Wir haben gerade erst erlebt, dass Wirtschaft ohne Ethik und Maß nicht funktio­niert". Dieser Satz stammt vom Chef der Sparda-Bank Helmut Lind. Auch er erstellt eine Gemeinwohl Bilanz und verweist dabei auf Artikel 151 der Bayrischen Verfassung, wonach die gesamte wirtschaft­liche Tätigkeit dem Gemeinwohl zu dienen hat. Und sogar der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss hofft in einer Stellungnahme vom 17. September 2015, „dass das Gemeinwohlmodell zu einem Wandel beitragen wird hin zu einem ,Europäischen Ethischen Markt`, der soziale Innovationen fördert, die Beschäftigungsrate steigert und sich positiv auf die Umwelt auswirkt".


Neue Sozialmodelle in Zeiten der flexiblen Arbeit

Zweifellos werden die Betriebe mit Gemeinwohlbilanz nicht so schnell die Welt erobern, ebenso wie die flexibilisierte und prekäre Arbeit nicht so schnell aus dieser Welt verschwinden wird. Im Gegenteil, „die Digitalisierung der Wirtschaft wird viele weitere Vollzeitjobs mit Routinearbeit vernichten. Wir brauchen z.B. bald keine Anwälte mehr, die sich durch Urteilssammlungen quälen, um Zitate zu finden. Das erledigen Maschinen. Den Menschen bleiben jene Tätigkeiten, bei denen auf menschliche Fähigkeiten nicht verzichtet werden kann. Und diese Arbeiten werden wohl mehr flexibel sein und z.T. wie die Pflege der Eltern kaum bezahlt werden“, sagt Helgo Klatt vom Hamburger Netzwerk bedingungsloses Grundeinkommen. „Wir müssen unsere Gesellschaft absichern in den Zeiten der Digitalisierung," pflichtet auch Telekom-Chef Timotheus Höttges bei. Man brauche ungewöhnliche Lösungen für den Erhalt des Sozialsystems. Das „bedingungslose Grundeinkommen“ könne beispielsweise durch die Besteuerung der Gewinne großer Internetkonzerne finanziert werden, deren Produktivität zunehmend an die Auswertung von Daten gekoppelt sei. Helgo Klatt ist sogar der Meinung, das Grundeinkommen könne ein Nullsummenspiel werden. Denn es werde ja stets mit den bestehenden Einkommen verrechnet, und nur bei Mindereinnahmen seien Zuzahlungen nötig. Deren Kosten könnten schon durch den Wegfall des Zwangs- und Kontrollapparats von Hartz IV, Wohngeld etc. eingespart werden. Der Markt der Almosenverteiler und Kontrolleure habe zuletzt 849,2 Milliarden Euro betragen, das sind 10.500 € pro Bürger im Jahr! „Und wir wollen ja nicht die Arbeit abschaffen, sondern die Arbeit vom Zwang befreien. Wenn die Menschen die Wahl haben zu arbeiten, es aber nicht müssen, dann arbeiten sie mit mehr Freude und sind leistungsbereiter.“

Noch herrscht allerdings eine weitverbreitete Skepsis gegen dieses Konzept des Grundeinkommens vor. Die einen behaupten, dass solche Zahlen die Abschaffung der Sozialversicherung und des Arbeitgeberanteils voraussetzten. Andere fürchten, dass Grundeinkommen würde die Prinzipien der Leistungsgesellschaft unterminieren und sei auch zu teuer.

In Portugal unter der neuen Regierung geht man zwar nicht ganz so weit. Weil aber auch hier seit der Arbeitsmarktreform Leiharbeit, Zeitarbeit und Minijobs überhand nehmen, will man die Unternehmen zumindest dazu zwingen, die vollen Sozialabgaben für jeden dieser flexibilisierten Jobs zu zahlen. Damit könnte langfristig die Sozialversicherung für Gesundheit und Renten gesichert werden.

In den USA sagt der Arbeitsmarktexperte Steven Hill voraus, dass in 10 Jahren die Hälfte aller amerikanischen Berufstätigen einer prekären Beschäftigung nach Art der Crowdworker und der Gig-Economy nachgehen wird – ein „Crowdworker“ sitzt irgendwo am Internetcomputer, loggt sich bei der Plattform „Mechanical Turk“ ein und bekommt einen Auftrag: Kleidungsstücke in Onlineshops einsortieren, Werbetexte für Möbel zu schreiben oder für die US- Schulbehörde entscheiden, welche Bilder auf der Schul-Internetseiten gezeigt werden dürfen. Dabei wird er ständig bewertet. Fällt die Bewertung unter 75%, bekommt er nur noch schlechter bezahlte Jobs. In der „Gig-Economy“ informiert eine App über mögliche Aufträge. Auch hier dasselbe System der digitalen Bewertung. Auch hier fehlt jede Sozialversicherung und jeder Rechtsschutz. Dies rüttele bereits kräftig an den Grundfesten der US Arbeitswelt. Um einer sozialen Katastrophe zu entgehen, schlägt Hill die Einrichtung einer staatlichen Versicherung vor, die sich an dem Vorbild der deutschen Künstlersozialkasse orientieren könnte.


Moderne Sklaven oder Leben ohne Geld

Die deutsche Plattform für Crowdworker und Gig-Economy heißt „Clickworker“. Auch hier breiten sich diese „Jobs“, die u.a. auch den Mindestlohn unterlaufen, immer mehr aus. Der neueste Schrei ist „Kapovaz“. Schon 1,5 Mio. arbeiten in Deutschland auf dieser Basis. Man wird zwar angestellt, aber der Unternehmer entscheidet jeden Tag neu, ob man gebraucht wird, und wenn ja, wie lange. 24 stündige Verfügbarkeit ist Voraussetzung. Angesichts solcher Perspektiven gibt es immer mehr junge Menschen, die aus diesem „Zug“ aussteigen wollen: Sie möchten möglichst ohne Geld leben. Nicht weil sie müssten. Sie wollen vielmehr zeigen, dass es sich gut leben lässt, mit dem, was die anderen übrig haben.

Berlin. Im Kiezladen ist Brunch. Eingeladen hat Foodsharing.de, eine Initiative, die Lebensmittel aus Supermärkten abholt, die ansonsten in Containern gelandet wären. Nachbarschaftsinitiativen und eigentlich alle, die Bedarf anmelden, sind willkommen. Menschen aus allen Schichten, mit oder ohne Job. Viele von ihnen versuchen, fast ohne Geld auszukommen. Hier treffen wir die Juristin Sarah. Sie stört sich an den ökologischen und menschlichen Verwüstungen, die nicht wegzudenken seien angesichts all der billigen Lebensmittel-, Kleider- oder Möbelangebote. Deshalb engagiert sie sich bei Good Matters. Diese Organisation veranstaltet eine Art Gesellschaftsspiel, in dem es darum geht, ein Jahr ohne den Kauf von „Sachen“ auszukommen. Keine Möbel, keine Klamotten, kein Computer. Man hat aber zwei Joker für je eine neue Sache. Diese Lebensweise werde immer gesellschaftsfähiger, sagt sie, Obama habe ja auch nur zwei Anzüge. Sie geht mit uns in den Umsonst-Laden im Nachbarschaftsladen Berlin Friedrichshain. Jens organisiert den Laden: „Leute, die etwas übrig haben, bringen das hier her. Und diejenigen, die etwas brauchen, können es sich mitnehmen. Um Handel zu vermeiden, gibt es nur eine Regel: Jeder darf maximal fünf Sachen heraustragen. Wer etwas mitnimmt, erfährt nicht die Diskriminierung von Bedürftigen. Jeder kann kommen, unabhängig von Bedürftigkeit. Und wer etwas bringt, ist kein Wohltätiger. Wir praktizieren bedingungsloses Teilen. Das Ziel ist die Unabhängigkeit von Geldwirtschaft. Immer mehr Wachstum und Profit ist keine Perspektive. Letztlich haben wir die Hoffnung, dass dieser Umsonst-Laden die Keimzelle einer solidarischen Gesellschaft ist.“

Paris. Die vielbefahrene Stadtautobahn, darunter im Erdgeschoss das gigantische Pariser Umsonst-Restaurant „Freegan Pony“. Das heutige Menü: Wassermelone mit Minzblättern, Auberginen-Kaviar und Kokosplätzchen. Alles, was auf den Tisch kommt, ist auf dem Großmarkt übrig geblieben und wäre auf dem Müll gelandet. Immer mehr Sterneköche stellen sich mal einen Abend hinter die Herdplatten in der Küche des „Freegan Pony“. Sarah Elgrably, Inhaberin eines Catering-Service mit veganer Kost, kocht hier heute zum ersten Mal, es gefällt ihr ungemein. "Weil wir hier alle im Team arbeiten, uns miteinander austauschen. Der Ort wirkt wie ein moderner Kibbuz.". Das Bier auf der Theke wird von einer nahen Brauerei spendiert. Sarah: „Vom Herd aus sah ich zwei Frauen, die beide ihr Essen abholten: die eine sichtbar aus großbürgerlichen Verhältnissen, die andere obdachlos. Ich konnte es gar nicht fassen, dass bei uns zwei so unterschiedliche Welten aufeinandertreffen. Aber genau das wollen wir auch mit unserem Restaurant."


Nuit debout – keine marktkonforme Demokratie

Der „Verlust der Demokratie“ ist heute Thema auf der Place de la République. Der Ökonom Michel Aglietta erinnert an den Grund, aus dem einst François Hollande gewählt wurde: „Er hatte versprochen, die Reichen zu besteuern und die Unternehmer zu bestrafen, die Fabriken leer stehen lassen. Industrieminister Arnaud Montebourg hatte das zwar versucht, doch als Rating-Agenturen Frankreich anschließend abwerteten und internationale Konzerne wie Unilever offen drohten, Kapital aus Frankreich abzuziehen, fiel ihm die eigene Regierung in den Rücken. Mittlerweile ist François Hollande beim Gegenteil dessen angekommen, was er bei den Wahlen versprochen hatte. Es ist letztlich schon fast egal, wer mit welchem Programm gewählt wird. Immer landet die Regierung bei der Politik, Investoren auf Kosten der Beschäftigten und der ganzen Gesellschaft erleichterte Bedingungen anzubieten. Wir brauchen eine ganz andere Demokratie als die der Wahlen, eine Demokratie von unten!


15 M

Im Mai 2011 entstand auf der Place de la République die oft als Vorbild genannte spanische Jugendbewegung 15M. Tom Kucharz ist Deutscher, wir treffen ihn auf dem Madrider Platz Puerta del Sol. Er ist seit fast 20 Jahren in Madrid politisch aktiv und war schon bei der „Geburt“ von 15 M beteiligt. Zu Archivaufnahmen erzählt er: „Am Sonntag, dem 15. Mai 2011, nach einer großen Demonstration haben ca. 100 Menschen spontan auf dem Platz Puerta del Sol übernachtet. Ab dem nächsten Tag kamen immer mehr Menschen und eröffneten unter dem Motto „Nehmt Euch den Platz“ ein Zeltlager. Schließlich gab es an 60 weiteren Orten solche Camps. Die Demonstranten haben viel Unterstützung erfahren, 66 % der Bevölkerung sympathisierte mit unserer 15M-Bewegung, 81% glaubte, das sich die Menschen zurecht empören. Das Camp bestand bis zum 12. Juni. An diesem Tag beschloss die Vollversammlung, es im Rahmen einer Großkundgebung aufzulösen und alle Wege zu suchen, die Bewegung dezentral zu verbreiten.“

Seither haben sich überall Gruppen Aktiver gebildet, in denen Ausgemusterte und gestresste „Schlipse“ versuchen, Solidarität zu üben, im Alltag Alternativen zu der perspektivlos empfundenen Gesellschaft zu leben. Diese Initiativen haben im Juni 2015 dafür gesorgt, dass bei den Kommunalwahlen in fast in allen Städten ihre VertreterInnen gewählt wurden und die traditionellen Parteien ganz außen vor blieben. Die Partei Podemos ist zumindest teilweise eine Fortsetzung auf nationaler Ebene. Eine Hauptforderung bei den gegenwärigen höchst schwirigen Regierungsverhandlungen ist u. a. die Rücknahme der Deregulierung des Arbeitsmarkts.